Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
kaum kaputt machen.« Am Ende war es doch kein Ärger gewesen, aber ich blieb auf der Hut.
Ich wählte eine Taste in der Mitte. Ein klarer Ton hallte durch den luftigen Raum. Funken schossen mein Rückgrat hinauf, und ich drückte auf eine weitere Taste und noch eine. Jeder Ton war tiefer als der davor, während meine Finger auf das linke Ende des Klaviers zukrochen. Ich versuchte eine Taste auf der rechten Seite, und der Ton war höher. Es war überhaupt nicht wie ein Lied, aber zu hören, wie der Klang von dem polierten Stein und den Möbeln zurückgeworfen wurde – meine Wangen schmerzten vom Grinsen.
Sam setzte sich auf die Bank, ließ die Fingerspitzen über die Tasten gleiten, ohne eine davon niederzudrücken, dann griff er meine vier Töne auf. Sie klangen abgehackt. Unmelodisch.
Aber da war etwas an der Art, wie er dasaß, etwas Vertrautes. Dies war kein geborgter Flügel. Aber wahrscheinlich hatten viele Leute einen Flügel.
Die vier Töne erklangen von Neuem, diesmal in einem langsamen Rhythmus, und als er mich ansah, glitt ein unergründlicher Ausdruck über sein Gesicht.
Ich konnte nicht aufhören, seine Hände auf den Klaviertasten anzusehen, die Art, wie sie dort hinzugehören schienen.
Er spielte meine Töne wieder, doch statt anschließend aufzuhören, spielte er das Erstaunlichste, was meine Ohren je gehört hatten. Wie Wellen an einem Seeufer und Wind durch Bäume. Da waren Blitze, Donner und prasselnder Regen. Hitze und Zorn und die Süße von Honig.
Ich hatte diese Musik noch nie zuvor gehört. Als sie lauter wurde, schwoll mein Herz an, ließ keinen Raum zum Atmen, und mein Inneres schmerzte.
Sie ging ewig lang weiter und nicht lange genug. Dann kamen meine vier Töne wieder, langsam wie zuvor. Ich konnte kaum atmen, während der Klang von meinen Gedanken widerhallte. Schließlich senkte sich Stille über den Raum.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich gesetzt zu haben. Aber es war eine gute Entscheidung gewesen. Meine Beine fühlten sich nicht mehr stark genug an, um mich zu tragen.
»Sam, bist du …« Ich verschluckte den Namen. Wenn ich mich irrte, wäre es wirklich peinlich. Aber ich war bereits am Boden, noch immer von der Musik erfüllt wie beim ersten Mal, als ich das Abspielgerät aus der Bibliothek gestohlen hatte. Jedoch hundertmal mehr.
Dies hier war – real.
»Bist du Dossam?«
Seine Hände ruhten auf den Tasten, dort ganz und gar zu Hause. Innerlich flehte ich ihn an weiterzuspielen.
»Ana«, begann er, und ich sah ihm in die Augen. »Ich wollte es dir sagen.«
»Warum hast du es nicht getan?« Wenn ich nur aufhören könnte, an das medikamentenbedingte Geständnis meiner Schwärmerei zu denken. Wenn es ein Loch gegeben hätte, in das ich hätte hineinkriechen können, ich hätte es getan.
Zärtlich berührte er abermals die Tasten, und ein seltsamer Ausdruck glitt über seine Züge. »Zuerst dachte ich nicht, dass es eine Rolle spielen würde. Und danach«, er schüttelte den Kopf, »du weißt schon. Ich wollte nicht, dass du dich in meiner Nähe anders fühlst.«
Das war entweder wirklich freundlich oder wirklich dämlich von ihm. »Du hast mir gesagt, dein Name sei Sam. Alle anderen haben dich auch Sam genannt.« Ich war mir jedenfalls ziemlich sicher, dass ich es gemerkt hätte, wenn die Leute ihn Dossam genannt hätten.
Er wurde rot. »Es ist kürzer, und alle benutzen diesen Namen jetzt schon eine Ewigkeit. Am See, als ich dir meinen Namen nannte, wusste ich nicht, dass du es nicht wissen würdest. Ich hätte es erklären sollen, aber …«
»Schon gut.« Ich stand auf, bemüht, meine Fassung wiederzuerlangen, aber Dossam war da , und wie konnte ich ihn jemals wieder ansehen, wenn ich wusste, dass er mich in meiner schlimmsten Verfassung gesehen hatte? Wie konnte er je wieder Sam sein, jetzt, da er Dossam war?
Genau das hatte er zu vermeiden versucht, indem er mir seine wahre Identität verschwiegen hatte. Wenn ich mich nicht zusammenriss, würde er schreckliche Dinge von mir denken.
Ich zwang mich, ihn anzusehen, wie er da immer noch am Klavier saß. Er sah nach wie vor aus wie der Sam, der mich aus dem See gezogen hatte, und der Sam, der meine Hände verbunden hatte, nachdem sie verbrannt worden waren.
»Was war das, was du gerade gespielt hast?« Ich rückte näher heran. Ans Klavier. An ihn.
Dieselben weit auseinanderliegenden Augen, dasselbe widerspenstige schwarze Haar. Dasselbe zögerliche Lächeln. »Es gehört dir«, antwortete er.
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