Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
du hättest dir das Lesen selbst beigebracht. Denn du warst vor einem Moment drauf und dran, Musik zu lesen, dabei beschäftigst du dich erst seit fünf Minuten damit.«
Der Kloß in meinem Hals machte mir das Sprechen unmöglich.
»Ana«, flüsterte er. »Ich werde dich niemals belügen.«
Und woher sollte ich wissen, ob er nicht jetzt log? Wenn er mich beobachtete, war es vielleicht so, als beobachte er ein neugeborenes Kätzchen, das blind und hilflos um Nahrung und Liebe miaute. Süß, aber hilflos. Kleine Siege wie das Finden der Milch seiner Mutter wurden gelobt. Kleine Siege wie die Entdeckung, welche Zeichen Musiknoten waren, wurden gelobt.
»Vor langer Zeit, vor dem Rat, ehe wir begriffen hatten, dass wir immer wieder geboren werden würden, ganz gleich, was geschah, gab es einen Krieg. Wir kämpften gegeneinander, Tausende gegen Tausende.« Plötzlich klang er alt, als drückten die Jahrtausende seine Worte nieder. »Für mich stand in dem Krieg nicht viel auf dem Spiel, und ich wollte nicht kämpfen. Ich hielt mich die meiste Zeit fern, aber ich hatte Freunde auf dem Schlachtfeld. Während ich eines Tages mit verschiedenen Geräuschen experimentierte, entdeckte ich, dass eine Sehne, die auf einen gebogenen Stock gespannt war, einen schönen Klang von sich gab und dass verschiedene Längen verschiedene
Töne machten. Wenn man mehrere davon zusammen benutzte, wurde Musik daraus. Ich beeilte mich, meinen Freunden zu zeigen, was ich entdeckt hatte, denn ich dachte, sie könnten eine Pause von dem Krieg brauchen.«
Nach wie vor konnte ich mich nicht überwinden, Sam anzusehen.
»Sie haben sich so gefreut, und da Bogenschießen ebenfalls gerade entdeckt worden war, gab es eine Menge Sehnen auf gebogenen Stöcken. Aber als sie dachten, ich sei außer Hörweite, bekam ich mit, dass alle anfingen zu lachen und auf den Sehnen ihrer Bogen eine Melodie zu zupfen. Sie hatten es schon wochenlang geübt.«
Ich ließ die Hände auf den Schoß fallen. »Es ist nicht dasselbe.« Meine Worte kamen nicht so heftig heraus, wie ich es beabsichtigt hatte.
»Sicher nicht in diesem Fall, weil ich wirklich beeindruckt bin. Aber ich schätze, Erwachsenwerden war einfach so. Zu entdecken, wie man liest, nur damit jemand lacht, weil er es schon seit Tausenden von Jahren kann. Zu begreifen, wie man Arbeiten effektiver erledigen kann, nur um zu entdecken, dass ein anderer es schon immer auf die einfache Art gemacht hat, ohne es dir zu sagen.«
»Anzunehmen, dass etwas schrecklich schiefgegangen ist, obwohl mir niemand gesagt hat, dass es normal ist. Und …« Ich schüttelte den Kopf. Vergangene Leben hin, vergangene Leben her, ich wollte nicht mit ihm über meine erste Menstruation oder meinen ersten Pickel oder sonst was reden.
»Ausgelacht zu werden.« Er spielte einige Noten auf dem Klavier und summte vor sich hin. »Hattest du Freunde?«
»Ich habe über Freundschaften gelesen, aber ich glaube nicht, dass es sie gibt.«
»Dein Zynismus ist unglaublich.«
»Selbst wenn andere Kinder das Purpurrosenhaus besucht hätten, wären sie nicht wie ich gewesen. Sie hätten nicht das tun wollen, was ich tat. Sie warteten, bis sie groß genug waren, um allein überleben zu können, um zu ihren Leben zurückzukehren. Nicht um den Wald zu entdecken und Mineralien zu sammeln oder um Bücher über große Entdeckungen und Leistungen zu lesen. Sie waren dabei . Wir hätten nichts gemeinsam gehabt.«
»Ich denke, du und ich sind Freunde.«
»Seelenlose haben keine Freunde. Schmetterlinge auch nicht. Weißt du das nicht?«
»Also hat dir unsere gemeinsame Zeit in der Hütte nichts bedeutet?«
Ich erinnerte mich, wie ich ihm beim Vorlesen zugehört hatte, wie ich ihm von den Rosen erzählt hatte, die ich wieder in Form gebracht hatte, und ich war an seine Schulter gelehnt eingeschlafen. »Es hat mir alles bedeutet«, flüsterte ich und hoffte halb, dass er es nicht hörte.
Vier Töne erklangen auf dem Klavier. »Ich habe gesehen, wie du es vorhin angeschaut hast, und vor einer Weile bist du aufgestanden, um die Seiten zu studieren. Allein. Weil du es magst.«
Ich zuckte die Achseln. »Das heißt nicht, dass wir Freunde sind.«
»Es wäre ein Anfang.« Wieder erfüllten vier Töne die Stille. »Meiner Erfahrung nach wächst Freundschaft auf natürliche Weise. Indem man redet, etwas gemeinsam unternimmt, lernt.« Er ließ mir keine Zeit, ihn danach zu fragen, was er denn von mir lernen könne. »Ich mag deine Gesellschaft, was ein
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