Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
kommen. Auf keinen Fall sollte Sam mich hereintaumeln hören, voller Angst
vor Schritten in der Dunkelheit. Schritten, die nicht einmal etwas getan hatten.
Während ich all meine Sinne auf das Unvertraute richtete, stahl ich mich den schneebestäubten Weg entlang und ins Haus. Das Wohnzimmer war dunkel, als ich die Tür hinter mir schloss und darauf achtete, sie nicht zu laut klicken zu lassen. Ich stellte meine Taschenlampe ab, legte sie auf den Tisch und schloss die Augen, damit sie sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten, bevor ich mich weiter in den Raum hineinbewegte.
Wenn mir jemand gefolgt war, so tat er es jetzt nicht mehr. Und bei Sam war ich sicher – nur vielleicht jetzt gerade nicht.
Er lag ausgestreckt auf dem Sofa. Ein Buch war ihm aus der Hand gefallen, während die andere Hand auf seiner Brust lag, die sich unter langen, gleichmäßigen Atemzügen hob und senkte. Ich wehrte mich nicht gegen die Erleichterung, als ich den Raum durchquerte und mich neben ihn kniete. Als er mir das Gesicht zuwandte, lächelte und murmelte: »Ich habe auf dich gewartet«, wagte ich zu denken, dass es ihm wieder gut ging.
»Komm«, flüsterte ich und legte das Buch auf den Tisch, damit er nicht darüberfiel. »Bringen wir dich ins Bett.«
Er nuschelte etwas Unverständliches und ließ sich von mir auf die Füße ziehen. Wir stolperten die Treppe hinauf und in sein Zimmer voller dunkler Formen. Kleiderschrank, Regale, Harfe und Bett. Bücher lauerten wie Fallen auf dem Boden, überraschend, wenn man bedachte, wie ordentlich er sonst war. Er musste sich schlimmer gefühlt haben, als mir klar gewesen war. Ich schob sie mit den Füßen aus dem Weg, bevor ich Sam zu seinem Bett führte.
Er setzte sich schwankend mit einem schläfrigen Ächzen, und ich stützte ihn an den Schultern. »Bist du sicher, dass du in deinen Klamotten schlafen willst?« Nicht, dass ich gewusst hätte, wo er sein Nachtzeug aufbewahrte.
»Ja.« Er ließ sich auf die Seite fallen und zog die Decken bis zur Mitte hoch. »Danke, Ana. Ich bin froh, dass du zu Hause bist.« Er drückte mein Handgelenk und war wieder eingeschlafen, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Schlaf gut.« Bevor ich den Mut verlor, beugte ich mich vor, küsste ihn auf die Wange und atmete seinen Duft ein. Kräuter, die gleichen, die er mir in der Nacht gegeben hatte, als er mich aus dem Endsee gerettet hatte. »Morgen wird es besser sein. Wart’s ab.« Ich schlängelte mich auf Zehenspitzen um die Bücher auf dem Boden herum, warf noch einen letzten Blick auf seine schlafende Gestalt und seufzte.
Auf dem Weg in mein Zimmer blieb ich an der Treppe stehen, auf der Galerie über dem Wohnzimmer, und ging auf Zehenspitzen zur Haustür. Sam tat es für gewöhnlich nicht, denn alle kannten und vertrauten einander – irgendwie –, aber bei dem Gedanken, dass mir jemand durch die Straßen bis hierher gefolgt war, schloss ich heute Abend die Tür ab.
KAPITEL 18
Vergangenheit
Tanzstunden bei Stef. Hausarbeit. Obwohl mich die Schritte der letzten Nacht bis in meine Träume verfolgten, verlief unser Vormittag wie gewöhnlich.
Nach einer schnellen Dusche ging ich nach unten ans Klavier. Sam ließ mir immer ein paar Minuten Übungszeit, bevor er sich zu mir gesellte, und ich machte zwar noch viele Fehler, aber er sagte nie etwas, es sei denn, ich wiederholte den Fehler während unserer Unterrichtsstunde.
Er hatte mir Rhythmus und Dynamik erklärt und mir ihre Zeichen auf den Notenblättern gezeigt, und er hatte mir geholfen, wie ich am besten die Tasten mit meinen unterdurchschnittlich kleinen Händen erreichte. Wenn ich Fehler machte, übte ich diesen Teil, bis ich ihn zehnmal hintereinander richtig hinbekam, und aus irgendeinem Grund machte ihn das stolz. Ich wollte einfach gut sein.
Ich spielte eine kurze Etüde und versuchte, mich auf die Noten zu konzentrieren statt auf die Art, wie Sam und ich an diesem Morgen getanzt hatten. Aber es war schwer.
Für gewöhnlich unterrichtete mich Stef, aber manchmal setzte sie sich ans Klavier und brachte Sam dazu, aufzustehen und zu tanzen. Er entsprach immer ihrem Wunsch, doch seine Haltung zeugte von Widerstreben: Die Schultern vorgebeugt sah er mir nicht in die Augen, und er bewegte sich steif. Das ging so bis zur Mitte des Stücks, das Stef uns gerade üben ließ.
Dann war er in dem Tanz, so sicher wie jemand, der ihn seit tausend Jahren kannte. Während der langsamen Tänze, wie wir sie heute Morgen geübt hatten, hielt er mich,
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