Das Meer Der Tausend Seelen
Augen und gehe im Geiste durch den Leuchtturm, dabei lese ich die Worte an den Türen. Nun wird alles klar. Das erste Tor mit der römischen Zahl I entspricht der Zeile, die in unsere Haustür geritzt war. Das nächste Tor, durch das wir gegangen sind, Nummer sechs, gehört zu den Worten am Fuß der Treppe. Und an dieser Kreuzung können wir unter drei Toren wählen. Zwei von ihnen spielen auf Zeilen aus Gedichten an, die in Schranktüren geschnitzt sind, aber die Worte von einem der Tore stehen an der Treppe. Es ist, als ob die Worte mich irgendwo hinführen würden.
Mit zitternden Händen blättere ich zurück. Oben an unserer Treppe befindet sich noch ein Zitat, nach dem ich jetzt die Seiten absuche. Als meine Finger über die Zeilen von Sonett XV streichen, möchte ich vor Aufregung am liebsten schreien. Ich blättere das Buch weiter durch, auf der Suche nach den Worten, die in die Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter geschnitzt sind.
Alles um mich herum versinkt: das Stöhnen, der Wind, der an den Seiten reißt. Nichts ist wichtiger, als dieses Puzzle zusammenzusetzen und herauszufinden, welche Hinweise meine Mutter hinterlassen hat. Hat sie das für mich gemacht? Oder war das ihre besondere Art, sich etwas zu merken, damit sie im Wald den Weg wiederfinden konnte?
Und dann erinnere ich mich an das, was sie mir am Tag ihres Abschieds erzählt hat – wenn ich sie finden wolle, müsse ich nur dem Licht folgen. Ich hatte immer gedacht, sie wolle damit sagen, dass der Leuchtturm immer mein Zuhause sein würde, und solange er stand, würde er auch ihr Zuhause sein. Aber jetzt erinnere ich mich wieder an die Worte, die sie in den Leuchtfeuerraum geritzt hatte, bevor sie wegging.
Mein Herz scheint stillzustehen, während ich hektisch blättere, die Zeilen gehen mir immer wieder durch den Kopf: »Nie kann der Tod Macht über dich gewinnen, wenn du in meinem Lied unsterblich bist! Solange Menschen atmen, Augen sehn, lebt mein Gesang und schützt dich vor Vergehn!« Und dann finde ich sie: Sonett XVIII . Mein Blick verschwimmt, ich kann die Zeilen kaum lesen. Meine Mutter wollte mir nicht sagen, dass ich dem Licht folgen sollte, um nach Hause zu kommen, sondern wie ich sie im Wald finden kann. Warum hätte sie mir sonst dieses Buch hinterlassen? Aus welchem anderen Grund sollte sie sonst die Worte geschnitzt und mich angewiesen haben, ihnen zu folgen.
Ich lächele. In diesem Moment fühle ich mich meiner Mutter so nah, es ist, als hätte sie dieses kleine Spiel mein ganzes Leben lang mit mir gespielt – und jetzt endlich habe ich es verstanden.
Als Catcher und Elias vom Holzsammeln zurückkommen, platze ich fast vor Aufregung und kann kaum an mich halten, als ich ihnen erzähle, was ich herausgefunden habe – dass es eine Verbindung zwischen dem Buch, den Pfaden und den Worten im Leuchtturm gibt. Zwar bin ich mir nicht sicher, ob ich sie völlig überzeugt habe, doch wenigstens wissen wir, worauf wir bei der Wahl unseres Pfades achten müssen.
Nachdem wir etwas von unseren verbliebenen Vorräten gegessen haben, läuft Catcher noch einmal zurück, um zu überprüfen, ob die Rekruter inzwischen in den Wald vorgedrungen sind und wie weit sie hinter uns liegen. Elias schichtet ein kleines Feuer auf. Cira verschläft alles, sie ist immer noch erholungsbedürftig.
Ich setze mich neben sie und schaue in die Flammen. Das Gewitter lauert noch immer in der Dunkelheit, und das Schweigen zwischen Elias und mir wird größer. Er hat die Ärmel von Rogers Hemd bis über die Ellenbogen aufgerollt, der Feuerschein flackert über seine Haut. Den Rücken durchgedrückt, die Muskeln angespannt, hat er die Umgebung aufmerksam im Blick.
Obwohl ich versuche, nicht an diesen Augenblick am Strand zu denken, als er mich beinahe geküsst hätte, werde ich rot, die Erinnerung wühlt mich auf. Ich möchte ihn fragen, warum er das getan hat, aber es ist mir zu peinlich.
Im Feuer zischt der Pflanzensaft, die Scheite fallen zusammen, und Funken sprühen zum Himmel. Elias ertappt mich, wie ich ihn beobachte. Ich sitze mit angezogenen Knien da, mein Kinn ruht auf den Händen. Ich möchte den Kopf zwischen den Armen vergraben, aber ich tue es nicht. Ich halte seinem Blick stand, so kühn und selbstbewusst habe ich mich seit der Nacht nicht gefühlt, in der ich das erste Mal mit Catcher über die Barriere geklettert bin.
Meine Entdeckungen haben mich so aufgewühlt, dass ich nicht schlafen kann. Der Wind streicht durch die Wipfel und erinnert
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