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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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abgehen, vor jedem ist ein Tor. Cira und ich sind langsam hinter den anderen hergewandert, und als wir aufgeholt haben, hat Catcher jeden Pfad schon ein kleines Stück weit erkundet.
    »Sie sind markiert«, sagt er. Hier ist Platz, wir können uns ein bisschen ausbreiten. Ich helfe Cira beim Hinsetzen. Sie atmet flach, ihre Wangen sind hochrot, trotzdem hat sie sich geweigert, eine Pause zu machen, wenn ich es vorgeschlagen habe.
    Ich gehe von einem Tor zum anderen, hocke mich hin und schaue mir die Markierungen an: IX , XXX und XIV . Die Zahlen drehe und wende ich in meinem Kopf, versuche ihre Bedeutung zu ergründen.
    »Das ergibt keinen Sinn«, sage ich. »Ich dachte, die Zahlen würden aufsteigen in der Reihenfolge, einfach höher werden, aber … ich kann kein Muster erkennen.« Ich bin schweißüberströmt. Die Luft ist unglaublich schwül und schwer wegen des bevorstehenden Gewitters.
    »Es würde doch nicht weiterhelfen, solange wir nicht wissen, wonach wir suchen«, meint Cira, die noch immer versucht, zu Atem zu kommen. Ich fürchte, sie überfordert sich.
    »Vielleicht sollten wir hier rasten, wo Platz ist«, schlage ich vor. Catcher runzelt die Stirn, aber ich weise mit dem Kinn unauffällig in Ciras Richtung. Sie kann den Kopf kaum noch hochhalten. Zwar wollen wir Vista so weit wie möglich hinter uns lassen, doch dürfen wir dabei nicht riskieren, sie vollkommen zu erschöpfen.
    »Gut, dann sammele ich Holz für ein Feuer«, sagt Elias. Er geht einen der Pfade entlang und Catcher folgt, um ihm zu helfen.
    Cira ist eingeschlafen. Eine Weile sitze ich bei ihr und starre auf meine Hände, betrachte die Narbe auf meiner Handfläche, die aus der Nacht stammt, in der ich das Boot zum ersten Mal an der Barriere vorbeigesteuert habe. Am Himmel rollt der Donner, dessen Erschütterungen um mich herum zu spüren sind.
    Als ich mich frage, wo hier draußen wohl meine Mutter ist, muss ich an meine andere Mutter denken, meine erste. Ich schließe die Augen, atme den süßen Duft des nahenden Regens ein und versuche mich zu erinnern. Das Geräusch des Windes in den Wipfeln ist dem Rauschen der Wellen so ähnlich. Und so kann ich mir für einen Moment vorstellen, wieder am Strand zu sein, wo meine Mutter bald zu mir stoßen wird.
    Warum bin ich nicht mit ihr gegangen? Warum habe ich sie allein zurück in den Wald gehen lassen? Jetzt kommt mir das so dumm vor, meine Weigerung war so albern. Besonders, wo ich ihr letztlich doch gefolgt bin.
    Ich hole das Buch mit den Shakespeare-Sonetten aus meinem kleinen Rucksack. Während ich mit der Hand über den Einband streiche, denke ich an die vielen Male, die sie mir daraus vorgelesen hat. Ich denke an die Stunden, die sie damit verbracht hat, Zeilen der Gedichte in die Türrahmen unseres Hauses zu schnitzen. Etwas, das ich nie verstanden habe. Sie hatte vor, es mir irgendwann mal zu erklären, wenn ich älter war, doch sie hat es nie getan.
    Es gibt zu viel, das ich an ihr nicht verstehe. So viel, das mir entgangen ist.
    Ich schlage die erste Seite auf und fange an, Sonett I zu lesen. Bei der Zeile »Grausam dir selbst gesinnt, dein eigner Feind …«, denke ich daran, wie meine Mutter immer die Finger auf diese Worte gelegt hat, wenn sie aus der Haustür des Leuchtturms gegangen ist. Mit der Zeit waren die Einritzungen von ihrer ständigen Berührung glatt geworden.
    Ich lese die Sonette II und III und erkenne keine der Zeilen wieder. Doch ich erinnere mich an die Zeile aus Sonett IV – »Betrügst du dich um dein geliebtes Bild« – und aus Sonett VI »Dann bliebest du der Todesmacht entrückt« – von der Wand am Fuß der Treppe.
    Mir ist schwindelig, mein Magen knurrt, und ich schaue die Pfade hinunter und frage mich, wo Catcher und Elias sein mögen. Ein Blitz zuckt über den Himmel und hüllt die Welt um mich herum in grelles Licht. Angespannt warte ich auf den Donner. Cira rührt sich nicht, sie atmet tief und regelmäßig.
    Aber irgendetwas hat meine Aufmerksamkeit erregt. Plötzlich starre ich auf die römischen Zahlen der kleinen Riegel an den Toren. Sonett XXX : »So süß und still die Schatten alter Zeit, muß vieles ich, was ich gesucht, entbehren« war oben am Treppenabsatz der ersten Treppenflucht eingeritzt gewesen. Die Zeilen von Sonett XI waren im hinteren Flur eingemeißelt.
    Und dann fange ich an zu überlegen – was, wenn meine Mutter nun bei ihren Ritzungen nach einem Muster vorgegangen ist? Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Ich schließe die

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