Das Meer Der Tausend Seelen
zögernd.
37
I ch gehe das kurze Stück – und dann schaue ich die kleine Hütte vor mir an. Sie sieht aus wie die vielen anderen, die links und rechts von ihr liegen. Leer. Verlassen. Unkraut überwuchert den früheren kleinen Garten, eine Ranke, die aus dem Schornstein wächst, nimmt das halbe Haus ein.
Aber hier ist noch irgendetwas anders, irgendetwas ist seltsam an diesem Haus, so als würden die Fenster weiter auseinanderliegen oder als hätte das Dach eine andere Neigung. Langsam nähere ich mich, die Geräusche des Nachmittags verklingen.
Die Tür ist geschlossen, die Bretter sind verzogen. Ich stoße sie auf, und in mir regt sich etwas. Keine Erinnerung, keine Vision, sondern ein Gefühl. Etwas Vertrautes. Eine Erwartung.
Drinnen sind ein Tisch und ein paar Stühle willkürlich im Raum verteilt. Eine Bank, eine Arbeitsfläche. Gras streicht mir um die Waden, als ich im Raum umhergehe. Ich bleibe vor einer Wand stehen. Mir gegenüber befindet sich ein alter Spiegel in einem kunstvoll geschnitzten Holzrahmen.
Ich muss mich gar nicht davorstellen, um zu wissen, was ich sehen werde. Mein Spiegelbild wird matt und verschwommen sein, gesprenkelt vom Alter des Glases. Aber im Spiegel werden zwei von uns zu sehen sein. So war es immer.
Doch als ich die Augen öffne, bin da nur ich. Ich strecke die Hand aus und berühre das Glas. Irgendwo da draußen gibt es noch jemanden mit dem gleichen Gesicht. Den gleichen Augen und Ohren, dem gleichen Kinn.
Ein tiefer Schmerz erfasst mich. Mir ist so viel entgangen wegen Elias. Doch dann denke ich an meine Mutter. An das Meer und den Leuchtturm – und ich frage mich, wie ich je wünschen konnte, darauf zu verzichten.
Wenn ich mir das Leben aussuchen könnte, das ich hätte führen wollen, welches hätte ich dann gewählt?
Neben dem Spiegel ist ein Foto an die Wand geheftet. Ich streiche mit den Fingern darüber und befreie es von der Staubschicht. Es ist eine alte Fotografie von silbrig glänzenden Gebäuden, die in den Himmel ragen, eng an eng ziehen sie sich bis in die Ferne. Ein leuchtend gelber Streifen mit den Worten New York City – in großen Buchstaben – rahmt das Bild. Ich starre auf die Fotografie, versuche mich an sie zu erinnern, kann es aber nicht.
Wieder schaue ich mein Spiegelbild an und frage mich, wie ich alles verlieren konnte. Ich fühle mich wie eine Fremde, als wäre es Jahre her, seit ich mein Spiegelbild zum letzten Mal gesehen habe. Ich sehe anders aus, mein Blick wirkt gejagter als früher, mein Mund ein bisschen schmaler. Ich sehe aus wie meine Mutter, ich sehe aus wie Mary. Nicht physisch, aber eben so wie wir alle aussehen, wenn wir der Realität unserer Welt ins Auge geblickt haben.
Ich strecke die Hand aus und berühre den Spiegel. Irgendwo da draußen habe ich eine Schwester. Aufregung und Hoffnung kribbeln auf meiner Haut. Mein Spiegelbild lächelt mich an, die Möglichkeit schimmert in ihren Augen.
Und dann gerät irgendetwas im Spiegel in Bewegung und verändert sich, hinter mir tritt jemand über die Schwelle. Ich drehe den Kopf, es ist mir peinlich, erwischt zu werden, wie ich mich selbst anschaue, und ich stelle fest, dass Catcher mich beobachtet.
Verlegen streiche ich mir eine Haarsträhne, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, hinters Ohr. Ich warte darauf, dass er fragt, was los ist, doch er sagt nur: »Cira hat mich gebeten, dich zu suchen.«
»Oh.« Ich hatte sie ganz vergessen. Eigentlich hatte ich alles andere außer mir vergessen. »Geht es ihr gut?«, frage ich.
Er zuckt mit den Schultern und schaut an mir vorbei in den Spiegel. Dann tritt er ganz ein und geht langsam an der Wand entlang. »Ich habe die anderen ein Stück die Straße hoch gefunden und ihnen von den Rekrutern erzählt – wenn man danach geht, wann ich sie zuletzt gesehen habe, dürften sie mittlerweile nur noch ein oder zwei Tage hinter uns sein. Dieser Mann, Harry, und deine Mutter helfen Vorräte zu sammeln. Er ist der Einzige im Dorf, alle anderen sind weggegangen oder gestorben, sagt er.«
Ich verschränke die Arme vor der Brust, meine Haut ist plötzlich klamm. All diese Häuser sind jetzt nutzlos und verlassen. Was wäre wohl passiert, wenn ich mich nie im Wald verirrt hätte? Wenn ich mir nicht das Knie aufgeschlagen hätte und wir schließlich alle wieder hierhin zurückgekehrt wären? Was wäre aus meiner Familie geworden?
»Wir machen uns morgen auf. Der Pfad führt auf der anderen Seite des Dorfes weiter, du gehst mit all den anderen
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