Das Meer Der Tausend Seelen
den Pfad entlang, und ich reiße die Zäune ein – das Dorf wird dann von Mudo überrannt, und die Rekruter können nicht durchkommen.« Seine Stimme klingt so ausdruckslos, so unpersönlich, dass ich zusammenzucke.
Ich drehe mich wieder um und schaue in den Spiegel. Sehe mir an, was einmal mein Zuhause war. Ich habe es gerade erst gefunden, und schon muss ich wieder weg. Ich schließe die Augen und suche nach einer Erinnerung, an der ich festhalten kann – nach etwas zum Mitnehmen. Aber … nichts. Vorsichtig ziehe ich das Bild von New York City von der Wand und stecke es in meine Tasche.
»Deine Mutter – ich meine Mary – ist jetzt bei Cira und versucht etwas gegen die Blutvergiftung zu tun, aber sie will mit dir sprechen«, sagt er ausdruckslos.
»Dann weißt du es also«, erwidere ich. Er weiß, dass Mary nicht meine Mutter ist.
Er zuckt mit den Schultern und verlässt das kleine Haus. Seine Gleichgültigkeit irritiert mich. Er soll doch mein Freund sein, jemand, dem ich vertrauen kann – jemand, in den ich mich hätte verlieben können. Ich laufe hinter ihm her durch die leeren Straßen.
»Warte, Catcher«, rufe ich ihm zu, aber er wird nicht mal langsamer. Als ich ihn endlich erreiche, packe ich seinen Arm, die Hitze seiner Haut ist die brandheiße Erinnerung an seine Ansteckung. Ich ziehe ihn herum, bis wir uns gegenüberstehen.
Seine Augen sind rot und entzündet. Mir war nicht aufgefallen, wie hohlwangig er geworden ist. Ob er in letzter Zeit überhaupt etwas gegessen hat?
»Warum hast du es mir nicht erzählt, Gabry?«, fragt er, und in seinen Worten ist die Verzweiflung zu hören. Er packt meine Schultern so heftig, dass ich fast Angst vor ihm bekomme. »Du hättest mir vertrauen können«, sagt er leise und mit krächzender Stimme.
Ich weiß nicht, was ich ihm erzählen, wie ich ihm erklären soll, dass ich mich nicht mal mit dem Gedanken daran auseinandersetzen wollte, wer ich vorher war. Er nimmt die Hand von meiner Schulter und legt sie an meinen Hals, seine Finger streichen mir über den Nacken und wärmen mich. Er beugt sich vor, unsere Stirnen berühren sich, nichts ist zwischen uns außer Hitze.
»Denkst du je daran, was in jener Nacht geschehen wäre, wenn ich die Achterbahn hochgeklettert wäre?«, fragt er. »Wie anders sich die Dinge vielleicht entwickelt hätten?« Mit dem Daumen streicht er an meinem Hals entlang. »Wenn ich doch nur keine Höhenangst gehabt hätte.«
Ich denke zurück an jene Nacht. Ich kann die Umrisse des beschädigten Einhorns auf dem Karussell vor mir sehen, das Salz in der Luft riechen und habe den Geschmack im Mund. Ich erinnere mich, wie ich ihm eine Entschuldigung gegeben habe, zurückzubleiben.
An diesen Augenblick habe ich so oft gedacht. Diese Nacht habe ich in unzähligen Varianten immer wieder durchgespielt. Wenn ich nicht solche Angst gehabt, wenn ich nur einen Herzschlag länger mit dem Ausholen gewartet hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Keiner von uns wäre jetzt hier.
Aber das erzähle ich ihm nicht. Stattdessen sage ich: »Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass es sich manchmal lohnt, solche Sachen loszulassen, dass es sich lohnt zu vergessen.«
Er lächelt schwach.
»Du hast überlebt, und das ist wichtig. Das ist das Entscheidende.« Ich lasse meine Finger in seine Hand gleiten, wir halten einander fest.
»Ich weiß nicht«, erwidert er. »Ich weiß nicht mehr, wo der Unterschied zwischen überleben und existieren ist. Was sind die Mudo? Sie existieren. Ich glaube, Leben sollte mehr sein als das – was unterscheidet uns sonst von den Mudo?«
Da denke ich an Elias. An die Nacht, in der wir aus der Stadt geflohen sind, in der er mit der ehemaligen Souler-Frau namens Kyra an der Brücke stand und mir erzählte, es würde keinen Unterschied geben zwischen uns und ihnen. Damals wollte ich ihm nicht glauben, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es ist schwer, in einem vergessenen Dorf in den letzten Zügen des Überlebens zu stehen und zu überlegen, ob das jetzt alles ist, was wir noch tun werden. Ob der Kampf längst verloren ist.
Ich denke daran, was ich Elias damals gern erwidert hätte. »Und die Liebe?«, frage ich Catcher leise. »Das unterscheidet uns doch. Darum geht es im Leben.«
Er zieht den Kopf zurück und streicht mit den Fingern an meinem Gesicht entlang. Sein Lächeln ist wehmütig, und es macht mir Angst, weil ich nicht weiß, was er denkt. Ich weiß nicht mehr, wer er ist – nicht so wie
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