Das Meer Der Tausend Seelen
Eintrag finde. Das Blatt hat einen Knick in der Mitte, und am Rand ist es zerfleddert, als wäre es aus dem Buch herausgerissen und gefaltet worden.
Auf der einen Seite sind in ordentlicher Schrift Verlobungen aufgelistet, und ich will schon umblättern, als mir ein Name ins Auge fällt. Mit dem Finger streiche ich über die Buchstaben: Mary. Und sie ist als Harrys Verlobte aufgeführt. Ich drehe das Blatt um und suche nach der Eintragung ihrer Hochzeit, aber da ist keine. Nur eine letzte Bemerkung:
Gabrielle war unser Ende. Sie hat die Zäune durchbrochen. Ungeweihte haben das Dorf überrannt. Im Münster wütet die Ansteckung, und wir haben uns in den Katakomben eingeschlossen. Wir sind das Ende. Nur wir sind noch übrig. Wir werden die Tunnel nach anderen Dörfern absuchen. Anderen Zufluchtsorten. Aber wir sind verzagt, dies kann wirklich das Ende sein.
Gottes Wille wird geschehen.
Im letzten Lichtschein gehe ich die übrigen Seiten durch, finde aber nichts weiter. Keine Erklärung. Ich kann kaum atmen, endlich verstehe ich, was zum Überleben unternommen worden ist. Und wie schnell alles verschwinden kann.
Nachdenklich betrachte ich den ausgefransten Rand der Seiten. Wie mag es gewesen sein, zur Schwesternschaft zu gehören, als die Entscheidung getroffen wurde, das Dorf abzuschotten? Wie groß muss ihre Verzweiflung gewesen sein! Da fällt mir eine Inschrift auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels auf.
Wir werden immer überleben. Es gibt immer Hoffnung.
Lächelnd betrachte ich die kleinen Wörter und frage mich, wer sie wohl geschrieben haben mag – und wann. Ob das alles ist, was man zum Überleben braucht: Hoffnung?
Als ich Schritte hinter mir auf dem Pfad höre, klappe das Buch zu und greife nach meinem Messer. Doch als ich mich umdrehe, ist es Harry, der auf mich zu kommt. »Deine Mutter hat sich Sorgen gemacht«, sagt er leise. Er bemerkt das Buch auf meinem Schoß, verliert aber kein Wort darüber.
Ich lasse das Messer wieder in die Schlaufe an meinem Gürtel gleiten. Meine Wangen brennen, weil ich mit dem Buch erwischt worden bin. Ich halte es ihm hin. »Das wollte ich nicht vor euch verstecken«, sage ich. »Ich habe nur gehofft, etwas über das Dorf zu erfahren … wo ich herkomme. Und vielleicht auch etwas über meine Mutter. Ich möchte wissen, wer sie war, ob ich ihr irgendwie ähnlich bin.«
Harry lächelt und setzt sich auf einen Stein mir gegenüber. Er streckt die Beine vor sich aus. Ich bemerke, wie sich sein Gesicht anspannt, als eins seiner Knie knackt. »Mary war schon immer ein bisschen davon besessen, die Wahrheit über die Dinge zu erfahren«, erzählt er mir. »Ich sage ihr immer, dass es einfach Dinge gibt, die wir nicht zu wissen bekommen in dieser Welt, aber …« Er zuckt mit den Schultern. Wir wissen beide, wie stur meine Mutter ist.
»Wie war meine Mutter in meinem Alter?«, frage ich, und als er zögert, füge ich hinzu: »Mary, meine ich. Wie war sie?«
Er lacht. »Sie war eine Querulantin. Eigensinnig.« Sein Lächeln ist deutlich zu hören. »Da gibt es ein paar Geschichten, die sie dir wahrscheinlich lieber selbst erzählen sollte, nicht ich. Aber …« Er rutscht hin und her, starrt an den Mudo vorbei hinter die Zäune. Dann lacht er wieder leise.
»Deine Mutter war eine furchtbare Sängerin«, sagt er schließlich.
Ich grinse. »Tatsächlich?«
»Ach du meine Güte, ja«, sagt Harry, ohne zu zögern. »Die Schwestern haben sie immer gebeten, im Gottesdienst nicht mitzusingen. Sie durfte nur den Mund bewegen.«
Ich muss lachen, ein Gefühl, als würden Blasen aufsteigen und zerplatzen. Mir wird leichter ums Herz. Es viel zu lange her, seit ich das letzte Mal gelacht habe.
»Natürlich hat sie trotzdem gesungen. Manchmal nur um Schwester Tabithas finstere Miene zu sehen.«
Jetzt prusten wir beide vor Lachen.
»Man konnte sie durchs ganze Dorf hören.« Er wischt sich die glitzernden Tränen aus den Augen. »Als sie älter wurde, so etwa in deinem Alter, war es ihr peinlich, glaube ich. Sie wollte nicht, dass irgendjemand ihr zuhörte. Aber sie liebte es noch immer. Sie hat immer gesungen, wenn sie die Wäsche im Fluss gewaschen hat.« Er schüttelt den Kopf – so viele Erinnerungen.
»Manchmal habe ich mich angeschlichen und ihr gelauscht. Sie …« Er wird leiser. »Sie war so voller Leben, wenn sie so sang. So frei. Als ob die Zäune …« Er reckt den Arm und streicht mit dem Finger über den Maschendraht, zieht ihn jedoch zurück, ehe ein Mudo ihn
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