Das Meer Der Tausend Seelen
seiner Strafe zu einer Art perversem Spektakel macht, widert mich an. Obwohl es mich eigentlich nicht erstaunen sollte, da unsere Stadt dem Protektorat nie viel bedeutet hat. Wir sind hier viel zu weit entfernt von der Dunklen Stadt, und seit die Piraten das Meer beherrschen, sind wir nutzlos geworden.
Um mich herum strömen die Leute vom Platz, und ich schnappe Gesprächsfetzen auf.
»Hätte uns alle umbringen können …«
»Die haben selber Schuld …«
»Diese armen Kinder …«
Ich kann mich nicht rühren. Ich kann mich nicht dazu überwinden wegzugehen, weshalb ich einfach stehen bleibe, ein Fels mitten im Fluss.
Meine beste Freundin wird zu den Rekrutern geschickt. Alle, die letzte Nacht dabei waren, müssen an die Front im Krieg gegen die Mudo – und es ist ausgeschlossen, dass sie sich die traditionelle Belohnung für den Einsatz verdienen.
Nur für mich gilt das nicht. Und mehr als alles andere erschreckt mich der Gedanke, dass ich damit nicht durchkommen werde.
Dann kriechen mir die Fragen in den Kopf: Warum haben die anderen mich nicht verraten? Warum haben sie dem Rat nicht erzählt, dass ich auch dabei gewesen bin?
Was passiert, wenn sie mich jetzt verraten?
Ich schaue mich um zum Rat, der sich mit den Eltern der Angesteckten und unter Quarantäne Stehenden links vom Podium um den Vorsitzenden geschart hat.
Manche wirken resigniert, manche sind wütend, sie schimpfen, weinen und bitten. Aber niemand setzt sich für Cira ein. Als Waisenkind hatte sie nur Catcher – und der ist jetzt nicht mehr da.
Ich will ihr nicht unter die Augen treten, aber ich weiß, dass ich es tun muss. Niemand hält mich auf, als ich mich zu Ciras Käfig durchdränge. Zuerst bemerkt sie mich nicht, aber Blane sieht mich und kommt mit einer Zornesfalte zwischen den Augen auf mich zu.
»Fühlst dich wohl schuldig?«, keift sie und schlägt die Hände gegen das Gitter. »Willst du uns verspotten?« Sie beugt sich vor.
Ich schaue mich schnell um, ob das sonst noch jemand gehört hat. Sie lacht einfach nur. Meine Wangen sind hochrot. Mir ist peinlich, wie meine Feigheit so bloßgestellt wird, und ich schäme mich, dass wir auf verschiedenen Seiten dieses Gitters stehen. Und dann tritt Cira vor. Sie legt ihre Hand auf Blanes Arm, und Blane geht weg, lässt uns allein.
Ich bin erstaunt, dass meine Freundin so viel Einfluss auf dieses ältere Mädchen hat.
»Cira, es tut mir leid«, murmele ich, denn ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll.
»Ist in Ordnung«, sagt sie. »War schlau von dir, wegzurennen. Abzuhauen.«
Ich trete von einem Fuß auf den anderen, fühle mich nur noch unbehaglicher. »Ich wollte das nicht«, erwidere ich. »Catcher … er hat mir gesagt, ich soll gehen, und ich habe nicht nachgedacht.« Ich muss mich zwingen, seinen Namen auszusprechen, meine Stimme bricht dabei.
Mit den Fäusten umklammert sie die Gitterstäbe: »Wo ist er?«
»Ich …« Ich schüttele den Kopf, schlucke. Sofort habe ich den Biss an seiner Schulter wieder vor Augen und das Blut, das ihm über den Arm läuft. Ich dachte, Cira hätte es auch gesehen. Ich dachte, sie wüsste es.
Ihre Blicke durchbohren mich.
»Weiß ich nicht«, sage ich schließlich. Ich kann mich nicht dazu überwinden, die Wahrheit überhaupt auszusprechen.
Ihr Gesicht verfinstert sich, der letzte Hoffnungsschimmer ist anscheinend erloschen. Die Resignation zieht tiefe Furchen um ihren Mund. »Aber ich dachte, er wäre mit dir gegangen.«
Ich schaue meiner alten Freundin in die Augen und sehe dort dieselbe Unsicherheit und Verletzlichkeit, die ich auch empfinde. Aber dieses letzte bisschen Hoffnung in ihren Worten ist wohl das Schmerzlichste für mich. Ich will nicht diejenige sein, die ihr von ihrem Bruder erzählt, und doch ist mir klar, dass sie verdient, es zu wissen. Ich mag ja vor allem anderen davongelaufen sein, aber hiervor kann ich nicht flüchten.
»Catcher war …« Ich schlucke. »Er wurde gebissen. Ich dachte, du hättest es gesehen.«
Ihre ohnehin schon blasse Haut bekommt etwas Gespenstisches – als ob sie zurückgekehrt wäre. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, feuchtet die rissige Haut an. »Aber er war nicht da, als sie uns geholt haben. Du irrst dich, er muss noch leben. Er muss da draußen sein. Vielleicht ist er verletzt. Du irrst dich!« Sie erhebt die Stimme, und die anderen im Käfig stellen sich vor uns, schirmen sie ab wie eine Wand.
Wie sie mich anschauen! Als ob ich die Verräterin wäre.
»Ich habe
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