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Das Meer Der Tausend Seelen

Das Meer Der Tausend Seelen

Titel: Das Meer Der Tausend Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Ryan , Catrin Frischer
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für die Tatsache, dass ich hier bin, dankbar sein solltest.«
    Ich sehe ihn genauer an, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich richtig gehört habe. »Du nennst sie Ungeweihte.« Ich zögere. »Warum?«
    Er schweigt lange. Ich glaube, er wartet darauf, dass ich etwas sage. Dann zuckt er mit den Schultern. »Jede Stadt hat ihren eigenen Begriff für sie, der nach der Rückkehr weitergegeben wurde. Mir gefällt Ungeweihte am besten.«
    Ich habe sonst nur meine Mutter dieses Wort verwenden hören. Doch andererseits ist mir auch selten jemand begegnet, der nicht aus Vista war, ausgenommen Händler und Rekruter. »Du sagst, du hast meinen Freund gesehen?«
    »Ich glaube, ich weiß, wo er ist.«
    Seine Augen sind so hell, es fällt mir schwer, den Blick abzuwenden. »Bringst du mich zu ihm?«
    Wieder schaut er an mir vorbei, dann reibt er sich mit der Hand über den Kopf, als ob er vergessen hätte, dass er gar keine Haare zum Raufen hat. »Bist du sicher, Gabry?« Er spricht meinen Kosenamen vorsichtig aus, als wolle er ihn ausprobieren.
    Ich will das bejahen, doch ich bringe keinen Ton heraus. Ich muss meine Lippen zwingen, sich zu bewegen, meine Brust daran erinnern, Luft herauszupressen. »Ja«, quetsche ich schließlich hervor. »Warum denn nicht?«
    Er tritt von einem Fuß auf den anderen. »Dein Freund ist infiziert«, sagt er.
    Ich schließe die Augen, der Schmerz kommt zurück, ich sehe die Bisswunde an Catchers Schulter wieder vor mir.
    »Du musst mir vertrauen«, sagt er fast zärtlich, als ich schweige. »Ich weiß, wie Ansteckung aussieht.« Er scheint ein klein wenig zu lachen. Ein nervöses Lachen, nicht mehr als ein kleiner Luftstoß. »Er hat sich angesteckt. Ihm bleiben vielleicht noch ein paar Tage. Aber …« Seine Stimme verliert sich, verschmilzt mit dem Stöhnen im Hintergrund.
    Ich nicke. »Ich weiß.« Für diese Worte muss ich anscheinend alles aufbringen, was ich bin. Natürlich existiert alles, was ich bin, gar nicht mehr. Das begreife ich plötzlich. Mit Catcher im Schatten der Achterbahn wusste ich zum ersten Mal für einen Augenblick, wer ich bin und wer ich sein wollte. Seitdem ist all das wieder erschüttert worden.
    Die Luft um mich herum ist zu dick, zu schwer. »Ich muss ihn einfach sehen«, sage ich. »Ich muss ihn einfach wiedersehen.«
    Als ich die Augen öffne, schaut Elias mich an, Schmerz hat sich in die Falten um seinen Mund gegraben. Ob auch er jemanden an die Mudo verloren hat? Er hat gesagt, er kenne Ansteckung, habe sie gesehen. Ob er beobachtet hat, wie jemand gebissen wurde, den er liebte? Ob er beobachtet hat, wie die Infektion sich durch den Körper gebrannt, die Wunde entzündet und die Kontrolle übernommen hat?
    Elias dreht sich um und schaut auf den Zaun. Die Anzahl der Mudo hat sich vervielfacht, ihr Stöhnen hallt von den halb zerstörten Mauern um uns herum wider. Sie zerren am Maschendraht, der zu dünn wirkt, zu schwach, um ihrem Ansturm standzuhalten. Elias greift in den Köcher auf seinem Rücken und holt einen langen, scharfen Dolch heraus.
    Ein in die Klinge geätztes Muster blitzt auf, ehe er sich auf das Tor stürzt. Die Spitze des Messers dringt durch die Maschen und durchbohrt den Schädel eines Mudo, so plötzlich und unerwartet, dass ich nach Luft schnappe. Elias grunzt, als er an der Waffe zerrt, sie freibekommt und sich auf den nächsten Mudo stürzt. Der sackt nach einem Moment zu Boden. Die um ihn herum bemerken es nicht. Es ist ihnen egal, hält sie nicht auf. Sie gehen nicht weg, werfen sich nur immer weiter gegen den Zaun, der unter ihrem Gewicht ausbeult.
    Mein ganzes Leben lang habe ich meine Mutter beim Köpfen von Mudo beobachtet, die nach Stürmen und starken Fluten am Strand angespült werden. Ich habe gesehen, wie sie sie umdreht und ihre Gesichter prüfend betrachtet, bevor sie ihnen ihre schaufelförmige Klinge in den Hals rammt.
    Es hatte immer den Anschein, sie würde jemanden suchen. Sie schien ständig zu befürchten, dass jemand, den sie kannte, an ihrem Strand landete. Offenbar bedauerte sie, dass sie diese Arbeit machen musste, und es schien ihr auch leidzutun, was aus den früheren Menschen zu ihren Füßen geworden war.
    Elias erledigt seine Aufgabe mit weniger Sorgfalt. Ich stelle fest, dass ich in die Gesichter der Mudo schaue und mich frage, wer sie einmal gewesen sind. Die angespülten Mudo waren mir immer so leblos vorgekommen. So tot und weit weg. Ich musste nie nah an sie heran. Nicht so wie an die hier, hinter den

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