Das Meer Der Tausend Seelen
darauf schließen, dass Catcher hier ist … oder je hier war. Ich werfe einen Blick zurück auf die Straße und überlege, ob Elias wohl zuschaut, wie ich in eine Falle gehe.
Aber was bleibt mir anderes übrig? Soll ich zurück an den Strand laufen, wo mein Boot noch immer von Mudo umzingelt ist? Oder zum Vergnügungspark und hoffen, dass dort draußen keine Mudo sind, wenn ich doch weiß, dass die Miliz mich finden wird und mich dem Rat und letztendlich den Rekrutern ausliefert?
Auf der Schwelle des Gebäudes bleibe ich stehen, die Mauern über mir ragen bis zu den Sternen auf. Ich lege eine zitternde Hand auf den Türknauf und starre in die Schwärze. Das schaffe ich auf keinen Fall. Ich kann mich nicht dazu überwinden, da hineinzugehen.
Aber eine Hand packt mich und zieht mich trotzdem hinein.
Arme schlingen sich um mich, ich bekomme keine Luft mehr und erstarre. Und dann steht mein Körper in Flammen, und ich kämpfe.
»Gabry.« Die Stimme ist brüchig, krächzend.
Ich wehre mich nicht und sinke an ihn. Es ist Catcher, er ist hier, er lebt – und ich bin endlich in Sicherheit.
Die Dunkelheit scheint ihm nichts auszumachen. Er führt mich in den zweiten Stock in einen leeren Raum, in den das Mondlicht strömt. Dort bleibt er in der Fensterhöhle stehen, nichts als ein Schatten.
Ich zögere, beobachte ihn. Befürchte, diesen Moment zu zerstören, wenn ich ihn berühre, und dass all meine Ängste und der Schmerz dann sofort zurückkommen. Trotzdem kann ich nicht anders, weshalb ich vortrete, meine Arme um ihn lege und mein Gesicht an seinen Rücken presse.
Bei jedem seiner Atemzüge höre ich sein Herz. Es klingt so stark, so voll. Ich drücke mich enger an ihn. Wenn ich ihn nur fest genug halte, kann ich vielleicht verhindern, dass die Infektion sich in seinem Körper ausbreitet.
Er dreht sich zu mir um und legt mir eine Hand auf die Wange, sein Daumen folgt der Spur meiner Tränen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, versuche meine Lippen auf seinen Mund zu pressen, aber er dreht den Kopf, sodass ich seinen Kiefer küsse, seine Muskeln sind angespannt und hart.
Dann rückt er von mir ab, geht wieder zum Fenster, und ich stehe in der Dunkelheit. Ein mattes Licht blitzt zwischen uns auf. Ich brauche einen Moment, bis mir klar wird, dass es vom Leuchtturm in der Ferne kommt. Kurz frage ich mich, ob meine Mutter dort wohl immer noch in den Wald starrt und ob ich ihr fehle.
Als das Licht wieder aufscheint, sehe ich die Flecken auf Catchers Hemd, die Risse, die es in seinem Kampf mit Mellie bekommen hat.
»Komm mit nach Hause, Catcher«, sage ich.
»Ich kann nicht.« Er packt den verrotteten Fensterrahmen. »Ich bin infiziert.«
Ich mache einen Schritt nach vorn. »Woher weißt du das? Vielleicht war es ein Kratzer, vielleicht hat sie dich nicht richtig gebissen.« Als ich das ausspreche, wird mir klar, wie sehr ich mir gewünscht habe, dass es wahr ist. Ich bin mit der Hoffnung den weiten Weg hierhergekommen, dass es gar nicht stimmt, was ich letzte Nacht gesehen habe, dass Cira recht hat und dass Catcher nicht angesteckt ist.
Aber je länger das Schweigen zwischen uns währt, desto verzweifelter wird meine Hoffnung. »Sag mir, dass du okay bist«, sage ich hektisch. Ich will ihm mit den Fäusten auf die Brust schlagen, bis er mir sagt, was ich hören will, doch stattdessen bohre ich nur meine Fingernägel in die Handflächen.
»Ich habe mich angesteckt, Gabrielle.« Seine Stimme klingt rau und tief – besiegt.
»Aber woher willst du das wissen?«, wende ich ein. Ich schüttele den Kopf. »Das hast du nicht. Das kann nicht sein. Ich kann nicht …«
»Ich kann es fühlen.« Er dreht sich wieder zu mir um, seine Augen sind hohl und wirken verloren in seinem Gesicht. Ich schlucke, die Mudo am Strand fallen mir ein. Wie kann der Mann vor mir zu so etwas werden? Er ist so stark. So warm. So lebendig.
Und dann begreife ich, dass die Hitze seiner Haut Fieber ist – von der Ansteckung! Es frisst sich durch ihn hindurch, während ich hier stehe und ihn anstarre. Am Ende wird es ihn umbringen, so wie es jeden umbringt, der infiziert ist.
Meine Mutter hat gesehen, wie Menschen, die sie geliebt hat, Mudo geworden sind. Das hat sie mir erzählt. Sie hat das Ende dieser Menschen miterlebt. Für mich war das nur eine Geschichte, nichts als eine Erzählung aus ihrem Leben im Wald. Ich habe nie wahrhaft verstanden, was sie mir da erzählt hat. Nie begriffen, was es bedeutete, was sie ertragen haben
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