Das Meer Der Tausend Seelen
ich. »Morgen wirst du immer noch hier sein.« Das sollte eine Feststellung sein, keine Bitte. Trotzdem warte ich wie erstarrt auf seine Antwort.
Er zögert. »Ein paar Tage bleiben mir wohl noch«, erwidert er vorsichtig. »Es war kein schlimmer Biss.«
Ich zucke zusammen bei diesem Wort – bei der schonungslosen Erwähnung seiner Ansteckung. Ich schaue mich in dem leeren Raum um. Ich will ihn nicht verlassen. Will nicht, dass die Nacht vorüber ist. Will mich nicht dem stellen, was die nächsten Tage bringen.
»Du solltest gehen«, sagt er. »Und du solltest nicht zurückkommen. Was, wenn …« Er schluckt, und seine Stimme bricht, als er fortfährt. »Was, wenn ich mich schon gewandelt habe und dich angreife?« Er fährt mit dem Daumen an meinem Hals entlang. »Ich will nicht … Ich darf dir nichts tun.«
»Das wirst du auch nicht«, murmele ich und drücke seine Hand an meine Wange.
»So hatte ich mir das nicht gedacht«, sagt er. Seine Stimme versagt. »Ich hatte Pläne …« Er kneift die Augen zu, sein ganzes Gesicht fällt zusammen, und sein Körper zittert. »Letzte Nacht, so sollte mein Leben sein. Du solltest es sein.« Mit den Fingerspitzen streicht er mir über die Schläfen.
Seine Worte dringen tief in mich ein, seine Wünsche und Träume vermischen sich mit meinen eigenen, führen mir alles vor Augen, was ich verloren habe. Alles, was niemals mir gehören wird.
»Meinst du damit, dass ich nicht zurückkommen kann?«, frage ich. Auch wenn ich mir noch so verzweifelt wünsche, er möge Nein sagen, so sehr wünscht sich das Ängstliche und Schwache in mir, dass er mich von meiner Bürde befreit. Er soll mich vor der Todesangst vor diesem Ort befreien und vor dem, was er werden wird. Was, wenn ich nicht stark genug bin? Wenn ich ihn im Stich lasse?
»Es ist nicht sicher«, flüstert er.
»Ist mir egal«, erwidere ich. Und plötzlich begreife ich, dass es wahr ist. Stärke, Entschlossenheit und Begehren blühen in mir auf und rauschen durch meine Adern.
Wir starren einander an und wissen nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Und dann zieht er mich wieder an sich, küsst meine Augen, meine Wangen, mein Kinn, küsst mich überall, nur nicht auf die Lippen. Danach lässt er meine Hand fallen und geht zurück ans Fenster.
»Sei vorsichtig«, sagt er. Die Muskeln in seiner Schulter straffen sich, als er die Finger in das Holz des Fenstersimses bohrt.
Ich öffne den Mund, will ihm etwas sagen, etwas, woran er sich festhalten kann, wenn er Angst hat. Ich will ihm sagen, dass ich glaube, ich könnte ihn lieben. Ich will den Raum mit der Hoffnung füllen, dass die Liebe vielleicht alles in Ordnung bringen kann. Doch es bleibt in mir gefangen.
Stattdessen drehe ich mich um und taste mich über die dunkle, enge Treppe auf die Straße hinaus, alles verschwimmt vor meinen Augen, Verlust und Schmerz stürzen auf mich ein und ziehen mich nach unten.
Als ich mich umschaue, sind die Fenster des Gebäudes still und dunkel. Ich will sehen, dass Catcher dort steht und hinuntersieht. Ich brauche noch eine andere Erinnerung, an der ich mich festhalten kann, als das schwindende Gefühl von seiner Hitze auf der Haut. Eine andere Erinnerung als die, dass seine Hand nicht auf meiner Wange liegt.
Fest umklammere ich Elias’ Messer und gehe die Straße hinunter. Ich versuche nicht zu weinen. Gerade will ich auf den Vergnügungspark und den blinkenden Leuchtturm dahinter zuhalten, da fällt eine Gestalt neben mir in meinen Schritt ein.
12
E r wird sich wandeln, Gabry«, sagt Elias. »Du kannst nichts daran ändern.«
Ich beiße die Zähne zusammen und gehe weiter. Er soll den Mund halten. Ich will ihn anschreien und ihm zu verstehen geben, dass er nicht begreift, was er da redet, und wie sehr er mir mit seinen Worten wehtut. Ich will auf seine Brust einhämmern, bis er versteht, dass er sich irrt, obwohl wir beide wissen, dass es nicht so ist.
»Was machst du hier?«, frage ich stattdessen.
Er legt eine Hand auf meinen Arm, hält mich auf, missbilligend entziehe ich mich seinem Griff. Ich will mich an Catchers Wärme erinnern, an seinen Geruch. Nicht an diesen Jungen.
»Wenn er sich wandelt, werde ich ihn töten müssen.« Er sagt diese Worte schlicht, ohne Bosheit, aber sie treffen mich dennoch.
Ich gebe ihm eine Ohrfeige. Ehe ich mich zurückhalten kann, brennt seine Haut auch schon unter meinen Fingern. Er steht einfach da, eine Gesichtshälfte rot im Mondschein leuchtend.
Ich schlage die Hand über den
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