Das Meer Der Tausend Seelen
nieder und senken die Köpfe, ihre Gesichter sind jetzt vor mir verborgen. Alle bis auf den Jungen mit den roten Bändern an den Handgelenken, er bleibt direkt vor der um sich schnappenden Mudo stehen.
Das ist die Chance für mich wegzulaufen, in die Nacht hinauszurennen, aber ich kann meine Beine nicht dazu bringen, sich von der Stelle zu bewegen. Ich kann nur langsam an der Wand hinunterrutschen, bis ich flach am Boden liege. Dort hält mich das Grauen dessen, was sich hier abspielt, gefangen.
Die Souler-Frau steht immer noch vor mir und erteilt Befehle. Jemand reicht dem Jungen ein scharfes Messer, und ich frage mich, ob hier vielleicht dieses archaische Opferritual vollzogen wird, von dem man uns in der Schule nichts erzählt hat, bei dem der Tod symbolisch besiegt werden soll, indem man diesen Jungen in einer aufwändigen Zeremonie tötet.
Der Junge steht da und starrt die Mudo so lange an, dass ein paar der Soulers unruhig die Köpfe heben. Doch dann erhebt er die Klinge. Das Mondlicht bricht sich noch im darauf eingeätzten Muster, bevor er seine eigene Haut mit dem Messer ritzt.
Ich schaudere und schnappe nach Luft. Blut läuft den Arm des Jungen herunter, die Mudo um ihn herum winden sich bei dem Geruch. Er ballt die Faust, rot tropft es von seinen Handknöcheln, er lässt das Messer aus der Hand gleiten und auf die Bühne fallen.
Und dann tritt er einen Schritt vor – in die Arme der wartenden Mudo.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, um einen Schrei zu unterdrücken, meine Brust hebt und senkt sich heftig. Ich versuche zu schlucken.
Die Mudo macht einen Satz, packt den Jungen und reißt ihn an sich. Er fügt sich ihr willig, nähert sich weiter ihrem schnappenden Mund. Die Zähne der Mudo reißen dem Jungen das Fleisch vom Hals, aber er weicht nicht zurück. Ich beobachte, wie er versucht, den Mund geschlossen zu halten, doch das schafft er nicht, und eine Träne rollt über sein Gesicht, während sein Körper sich vor Schmerzen krümmt.
Die Soulers um ihn herum zittern vor Aufregung, einige springen auf die Füße, als die Mudo beißt und beißt und beißt … bis der Junge schließlich zurücktaumelt.
Die beiden Männer ringen die Mudo nieder, und jemand gibt dem Jungen einen Hammer in die Hand, als er neben ihr auf die Knie fällt. Sogar von hier kann ich sehen, dass er sich in einem Schockzustand befindet. Seine Brust hebt und senkt sich rasch, seine Arme zittern. Er hat Mühe, den Hammer zu heben und damit auf den Kiefer der Mudo einzuschlagen. Mit viel Kraft kann er den Schlag nicht ausführen, doch das Gewicht des Hammers tut das Seine, und ich höre das Knacken von Zähnen und Knochen.
Nicht mal das kann ihr Stöhnen beenden, aber jetzt fliegen ihr Zahnsplitter aus dem Mund, wenn ihr Kiefer mahlt. Der Junge wischt sein Gesicht mit dem Ärmel seiner mittlerweile blutgetränkten Kutte ab. Er schwankt zurück, streckt die Hände aus und macht sich bereit, aber seinen Armen fehlt die Kraft, und er bricht zusammen.
Die Frau, die vor mir gestanden hat, läuft die Schräge hinunter und springt auf die Bühne, wo sie neben dem Jungen auf die Knie fällt. Sie zieht ihn auf ihren Schoß, um die beiden herum ist alles von seinem Blut durchtränkt.
Die Frau nimmt ein Halsband und legt es dem Jungen um. Dann drückt sie ihn in einer verzweifelten Umarmung an sich. Ihre Stimme ist leise, doch der Wind trägt sie die Schräge hinauf, sodass ich sie immer noch verstehen kann. »Jetzt wirst du ewig leben«, sagt sie mit tränennassem Gesicht.
Ich kann nicht glauben, was ich da eben beobachtet habe, obwohl die Geräusche und Bilder noch frisch sind. Mein Körper und mein Geist rebellieren, und ich husche aus den Schatten des Bogens. Doch ich bewege mich nicht vorsichtig genug, und genau in dem Augenblick, in dem der Kopf des Jungen nach oben schnellt, seine Kiefer mahlen und ein Stöhnen über seine Lippen kommt, rutscht mir mein Messer aus der Hand und fällt scheppernd zu Boden.
Mein Herz krampft sich zusammen vor Angst, ich schaue zu den Soulers – frage mich, was sie wohl machen, wenn sie mich hier beim Spionieren erwischen. Ob sie mich auch opfern würden? Aber keiner rennt auf mich zu oder ruft etwas. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf den Jungen gerichtet, der sich gerade gewandelt hat. Sie haben Mühe, eine Leine an seinem Halsband zu befestigen, weil er um sich schlagend auf die Lebenden ringsherum zu stolpert.
Ich atme erleichtert auf und sammele gerade mein Messer auf, als ich bemerke, dass
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