Das Meer Der Tausend Seelen
glatt geschliffen sind von den Wellen, die bei den höchsten Fluten gegen sie schlagen. Sobald ich auf der anderen Seite angelangt bin, liegen die Straßen in den Ruinen vor mir wie ein Labyrinth, und plötzlich sind die Zuversicht und der Tatendrang, die ich vorhin noch verspürt habe, völlig verschwunden.
Die Nachtluft streicht über meine Arme, streift die Wassertröpfchen, und meine Haut fängt an zu kribbeln. Zweifel befallen mich. Ich kann mich nicht dazu zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Reglos stehe ich da und starre die rissige Straße entlang, die eine dünne Schicht Sand bedeckt.
»Du schaffst das«, sage ich laut. Meine Stimme klingt hohl und fremdartig zwischen den verfallenen Gebäuden. Ich denke an Catcher, daran, was Cira tun würde, wenn sie hier wäre, und ich greife unter mein Hemd und packe die Superheldenfigur aus Plastik, die sie mir geschenkt hat. Cira hätte auf keinen Fall Angst, sie würde voranstürmen und ihren Bruder suchen.
Also mache ich das auch.
Auf der Suche nach Catchers Haus biege ich ein paarmal falsch ab, die Straßen und der Schutt sind überall gleich. In meinem Kopf liegt der Weg durch die Ruinen so klar vor mir, dass ich sicher war, ich würde mich erinnern, wie ich wieder zurückkomme.
Und doch zweifle ich an jeder Kreuzung und jeder Kurve, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mehr als einmal im Kreis gelaufen bin. Meine feuchten Kleider hängen mir schwer am Körper, das trocknende Salz juckt und spannt auf meiner Haut.
In einer Mulde zwischen zwei verfallenen Häusern versuche ich zu entscheiden, welchen Weg ich einschlagen soll. Am liebsten würde ich vor Wut gegen die nächste Mauer treten. Da höre ich ein leises Geräusch in der Brise, ein Hauch von etwas, das sich in das Zirpen der Grillen und meinen eigenen Herzschlag mischt.
Ich halte den Atem an und bemühe mich, genauer hinzuhören. Vielleicht ist es Catcher, denke ich noch, als aus dem Geräusch ein Lied wird, die Stimme ist hell und klar und eindeutig die einer Frau.
Ich lege den Kopf schräg, versuche die Worte des Liedes zu erfassen und will sogar schon darauf zugehen, doch ich bremse mich. Inzwischen kann ich einen Rhythmus ausmachen, der die Musik untermalt. Zuerst halte ich es für eine Trommel und denke, die Rekruter marschieren die lange Straße nach Vista entlang. Dann wird mir klar, dass es keine Trommel ist, die ich höre, es sind Schritte, und das Geräusch kommt nicht von der Hauptstraße, sondern aus viel größerer Nähe.
Vor Besorgnis bin ich wie erstarrt. Wer sonst kann denn noch hier draußen in den Ruinen sein? Irgendwie möchte ich auf die Leute zulaufen, weil man zu mehreren ja sicherer ist, doch das Gefühl, Vorsicht walten zu lassen, ist stärker.
Das Trommeln der marschierenden Leute wird lauter. Sie müssen ganz in der Nähe sein. Schnell suche nach einem Versteck, finde eine kleine Höhle hinter einer halb eingestürzten Mauer, auf die ich zu husche.
Am Eingang bleibe ich stehen. Der Mond steht hoch heute Nacht, er scheint fast so hell wie der Leuchtturm, aber die kleine Nische ist dunkel, und ich habe keine Ahnung, was sich dort noch verbergen könnte.
Dann spüre ich eine Bewegung. Mein Kopf schnellt herum, ich sehe, wie jemand oben an der Straße um die Ecke biegt. Ich schlüpfe in die Dunkelheit, umklammere mein Messer fest, quetsche mich so weit nach hinten, wie ich kann, und versuche nicht zu schreien, als mir etwas über den Knöchel krabbelt.
Der Gesang wird lauter, hallt in Mauern der alten Straße wider, das Stampfen der Schritte kommt immer näher. Schweiß und Salzwasser laufen mir den Nacken herunter. Und dann sehe ich die Füße der Vorbeigehenden, über dunklen Hosen reichen die Säume ihrer weißen Gewänder bis an die Knie.
Genau so ist Elias gekleidet. Nachdenklich wische ich mir über den Mund und versuche zu ergründen, was hier vorgeht, wer diese Leute sind und was sie hier draußen machen. Ob Elias wohl bei ihnen ist? Ich halte den Atem an. Hoffentlich bemerken sie die dunkle Pfütze nicht, wo ich eben noch gestanden habe.
Die Leute ziehen an mir vorbei, das Lied klingt noch in ihren Reihen und wird leiser mit der Entfernung. Der Beton bohrt sich in meine Knie, meine Beine schmerzen, weil ich mich in diesem kleinen Loch so zusammengekauert habe. Vorsichtig schiebe ich meinen Kopf in den Mondschein hinaus und schaue die Straße hinunter. Sie sind weg, bis auf das Echo liegen die Ruinen verlassen.
Ich schaue in die andere Richtung,
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