Das Meer Der Tausend Seelen
niederzuknien. Alles ist außer Kontrolle.
»Wir sind Mitglieder des Protektorats!«, ruft einer der Soulers mit zitternder Stimme. »Von euch wird verlangt, uns Schutz anzubieten! Wir haben nichts Falsches getan! Wir sind für den Frieden hier, für Gott!«
Niemand hört zu. Eigentlich sollte ich mir wünschen, dass die Soulers für das bezahlen, was sie letzte Nacht getan haben, aber wenn ich sie so sehe, weinend im Matsch, weiß ich nicht, was ich denken oder empfinden soll. Die Frau, die von der Axt getroffen wurde, sinkt langsam nach hinten, bis sie starr daliegt und blutüberströmt in den Himmel blickt. Der Mudo-Junge mit dem durchtrennten Rückgrat liegt quer über ihrem Schoß.
In diesem Chaos halte ich nach Elias Ausschau. Ich habe schreckliche Angst, er könnte in Gefahr sein, und vermag das nicht mit meinen Gefühlen in Einklang bringen. Ich entdecke ihn nicht, obwohl mittlerweile alle Soulers gleich aussehen, matschbedeckt und blutbespritzt tropft ihnen der Regen wie Tränen über die Gesichter.
»Ich verstehe das nicht«, sage ich zu niemand Bestimmtem.
Daniel entfernt sich schließlich von mir und schließt sich den anderen Milizionären an, die Mudo massakrieren. Ich weiß, es ist besser so, ich weiß, die Mudo sind Monster und sollten getötet werden. Aber irgendetwas daran fühlt sich verkehrt an. Diese freudige Wildheit in den Augen der Milizionäre …
Das ist meine Schuld. Ich habe der Miliz von den Soulers erzählt. Ich kann nicht länger hinschauen, drehe mich um, renne zurück zum Leuchtturm und lasse alles hinter mir.
19
B is ich wieder zum Leuchtturm hinauskomme, treibt Regen vom Meer heran, die Wellen schlagen hart auf den Sand und werfen immer mehr Mudo an den Strand. Auf das Eintreffen der Miliz muss ich nicht lange warten, nach der Konfrontation von vorhin strahlen sie eine Energie aus, die weithin wahrnehmbar ist. Ich versuche Gespräche mit ihnen zu vermeiden, doch als einige sich nach meiner Mutter erkundigen, erzähle ich, sie liege krank im Bett.
Alle scheinen mir aufs Wort zu glauben, nur Daniel nicht, der mich, einen Mundwinkel hochgezogen, die Augen zusammengekniffen, bloß anstarrt. Im Laufe des Tages wird die Patrouille am Strand abgelöst und sucht Unterschlupf bei mir im Leuchtturm, Daniel bleibt am längsten. Zum Glück sind wir nie allein.
Catchers dritte Nacht der Ansteckung rückt näher, und ich lehne es ab, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass er sich gewandelt haben könnte. Immerzu muss ich an ihn denken. Ich sollte bei ihm sein – ich habe es ihm schließlich versprochen –, und nun lasse ich ihn schon wieder im Stich. Angst und Sorgen grollen in mir wie der Donner am Himmel, am Ende will ich einfach nur weg von der Miliz und Daniels neugierigen Blicken.
Für einen Augenblick stehle ich mich davon, tue so, als müsste ich nach der Laterne schauen. Ich klettere auf den Leuchtturm und lehne mich auf der zu den Ruinen gelegenen Seite über das Geländer.
Der Wind peitscht mir das Haar um den Kopf, und sofort bin ich durchweicht. Natürlich kann ich nichts sehen – die Nacht greift um sich. Irgendwo da draußen stirbt Catcher. Und er ist allein.
Es sei denn, Elias ist da und wartet, weil er ihn zu einem dieser kieferlosen Souler-Mudo machen will.
Schuld und Kummer bedrücken mich so, dass ich mich körperlich schwach und krank fühle. Mir bricht das Herz. Ich sollte da sein, ich hatte ihm versprochen, wiederzukommen. Ob er wohl weiß, dass der Sturm mich von ihm fernhält? Oder glaubt er, ich hätte ihn im Stich gelassen? Am liebsten möchte ich die Treppen hinunterrennen und zur Barriere laufen. Sollen die Milizionäre mir doch folgen, sollen sie doch versuchen, mich aufzuhalten.
Aber ich tue es nicht. Ich muss immer an Elias’ Worte von neulich Nacht denken – wenn Catcher wirklich etwas an mir läge, würde er mir verbieten, das Risiko einzugehen, ihn wiederzusehen. Ich trete gegen das Geländer, Schmerz pocht in meinem Zeh, und ich bin wütend auf Elias, dass er mich dazu bringt, an Catchers Gefühlen zu zweifeln.
Ich presse die Hände aufs Gesicht, will nicht zugeben, dass ich wegen des Sturms auch ein wenig Erleichterung empfinde, dass ich froh bin, nicht den Mut aufbringen zu müssen, wieder in die Ruinen zu gehen, und glücklich, mich heute Nacht nicht diesen Ängsten stellen zu müssen.
Einige Angesteckte halten länger durch als andere, rufe ich mir ins Gedächtnis. Heute endet sein dritter Tag, und der Biss war klein – Catcher muss
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