Das Meer Der Tausend Seelen
beobachtet, weißt du«, sagt er. »Ich habe beobachtet, wie du dich Catcher diesen Sommer an den Hals geworfen hast. Wie du so getan hast, als würdest du dich fürchten, nur damit er dich mit seinen Händen berührt.« Ich schließe die Augen, um mich vor seinem Atem zu schützen, und versuche, den Kopf wegzudrehen, aber ich kann ihm nicht entkommen.
»Wo ist er jetzt, was?« Er schüttelt mich, und ich muss dringend von ihm weg, sonst ersticke ich. Vor meinen Augen sprühen Funken, und meine Brust sehnt sich schmerzlich nach Freiheit. Ich brauche Platz. Ich brauche Luft. Er muss mich loslassen. Ich muss weg hier.
Ich will ihn wegschubsen, doch er ist schneller. Seine Finger umklammern mein Handgelenk, sein Daumen bohrt sich zwischen meine Knochen, bis meine Hand taub wird.
Plötzlich bin ich mir nicht sicher, ob es mir gelingen wird, vor ihm zu fliehen. Panik droht mich zu überwältigen. Er hat mich vollkommen unter Kontrolle. In dieser dunklen Nische wird uns niemand entdecken, niemand wird kommen und mich retten. Wir sind allein hier draußen im Schatten der Barriere. Das Grauen kriecht mir über die Haut und schreckliche Angst vor dem, was er für mich vorgesehen haben könnte.
Er grinst, als könne er meine Gedanken lesen. »Und wo ist dein kleiner Junge jetzt? Nicht hier, um dich zu retten, was?« Er lacht, und ich würge, meine Brust krampft sich zusammen, mein Blick verschwimmt. »Ich vermute, er ist immer noch da draußen. Hat wohl zu viel Angst davor zurückzukommen? Für den Dienst bei den Rekrutern ist er wohl viel zu feige.« Mein Körper ist brennend heiß, meine Muskeln starr und schwach. Ohne Sauerstoff kann ich mich nicht auf das konzentrieren, was er sagt. Ich bin am Rande einer Ohnmacht, doch ich klammere mich an die letzten Reste von Bewusstsein, weil ich Angst vor dem habe, was geschehen würde, wenn ich völlig wehrlos wäre.
Er packt mein Handgelenk fester, sein schlimmes Bein presst er an die Außenseite meines Schenkels. Alles in mir lehnt sich gegen seine Berührung auf. »Du solltest Cira und die anderen weinen hören. Wenn ich Dienst habe und sie bewache, höre ich gern zu, wie sie sich selbst bedauern. Wenn du mich fragst, sie sind besser weggekommen, als sie es verdient haben. Schließlich haben sie uns alle in Gefahr gebracht.«
Stumm bewege ich den Mund. »Hör auf«, will ich sagen. »Hör auf.« Ich muss atmen, denke ich nur, sonst werde ich ohnmächtig.
Sein Mund schwebt über meinem, er lockert den Griff um meinen Hals, sodass ich endlich Luft in riesigen Zügen in die Lungen saugen kann. Würgend und hustend stellt sich mein Körper darauf ein, dass der Druck plötzlich nachgelassen hat. Daniel lächelt nur.
Meine Nase läuft, Tränen stehen mir in den Augen. Mein Blick flackert, der Hals brennt wund bei jedem japsenden Atemzug. »Die Sache ist die«, sagt er und trommelt mit seinen Fingern auf meinen Nacken. »Jetzt, da sie alle weggehen, bleiben nicht mehr viele von uns übrig. Eigentlich nur du und ich. Und ich könnte mir vorstellen, dass du dir recht bald einen Ehemann wünschen wirst. Einen, der ein treuer Bürger der Stadt ist, sodass niemandem Zweifel an deiner Loyalität kommen können. Und an diese Gerüchte, dass du heimlich über die Barriere geklettert sein sollst, wird dann keiner mehr denken.«
Er presst seine Nase an mein Schlüsselbein und atmet tief ein. Wieder würge ich. Das ist zu viel – seine Nähe, sein Körper fest an meinen gedrückt.
»Und, glaub mir, es gibt Gerüchte«, fügt er mit einem lüsternen Grinsen hinzu. »Zumindest wird es die schon bald geben.«
Meine Gedanken rasen. Ich versuche zu begreifen, in welcher Lage ich bin, versuche herauszufinden, was ich zu meinem Schutz sagen kann. Ich muss weg von ihm. Ich muss flüchten – und er ist zu nah und stark, und ich fühle mich völlig hilflos.
»Auf alle Fälle wird es Gerüchte geben, weil die Leute sich fragen werden, warum deine Mutter heute nicht an der Zeremonie teilgenommen hat. Oder warum sie in der Sturmnacht ihre Arbeit nicht getan hat.« Seine Lippen sind keinen Hauch von meinem Kiefer entfernt. »Irgendjemand muss ja anfangen, Fragen zu stellen, meinst du nicht auch? Sie sind ja schon misstrauisch, weil sie nicht von hier ist. Doch wenn du erst mir gehörst, wird natürlich keiner zu tief bohren.«
Er rückt ein Stück von mir ab und mustert mich, eine hässliche Mischung aus Wut und Frohlocken verzerrt sein Gesicht.
»Manchmal entwickeln sich die Dinge einfach so,
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