Das Meer Der Tausend Seelen
wie sie sollen, Gabrielle«, raunt er mir ins Ohr. »Manchmal muss man lernen, sich in das Unvermeidliche zu fügen.«
Dieses Wort entzündet etwas in mir: das Unvermeidliche. Dasselbe hat Cira gesagt, genau damit hat sie entschuldigt, dass sie aufgegeben hat. In mir lodert ein Feuer auf, es ergreift meine Muskeln, bringt mich dazu, die Kiefer fest aufeinanderzupressen, bis ich das Gefühl habe, meine Zähne würden splittern.
Es ist dieser Drang, etwas zu tun, egal was, damit ich wieder die Kontrolle über mich erlange, meine Lage, diese Welt und diesen Mann hier vor mir.
Ich drehe ihm den Kopf zu, bis unsere Lippen sich fast berühren. Ich lehne mich ein wenig zu ihm, spüre, wie er seine Lippen auf meine presst. Ich kann seine selbstgefällige Genugtuung wahrnehmen. Er denkt, er hat gewonnen. Er denkt, ich gehöre ihm. Es hinterlässt einen sauren und gallebitteren Geschmack in meinem Mund.
Und dann lasse ich meinen ganzen Körper schlaff werden und zwinge Daniel, mich mit beiden Armen festzuhalten. Wegen seines schlimmen Beines bringt ihn das aus dem Gleichgewicht – und für einen kleinen Augenblick lockert er den Griff um mein Handgelenk.
Instinktiv greife ich nach Elias’ Messer an meiner Hüfte und reiße den Arm hoch, bis die Klinge sich an Daniels Fleisch drückt.
Die Zeit bleibt stehen. Sicherlich halten die Wellen am Strand inne, ehe sie brechen, die Bäume hören auf, mit dem Wind zu rangeln, und jeder Vogel dreht sich zu uns um. Daniel reißt die Augen auf, die Erkenntnis kommt schnell.
Das Messer in seinen Körper gleiten zu lassen, ist so viel einfacher, als ich gedacht habe, ich tue es, ohne zu denken. Und dabei ist es ziemlich schwer, die Klinge mit Gewalt durch die Haut zu stechen, durch Muskel zu schneiden und am Knochen entlangzufahren.
Sein Körper spannt sich an, seine Lippen spitzen sich. Meine Muskeln zucken – und ich stoße Elias’ Klinge tiefer.
Einen Moment lang stehen wir zusammen, er und ich. Ich spüre, wie die Hitze aus ihm entweicht, wie mir Feuchtes über Brust und Bauch spritzt. Nur diesen einen Herzschlag lang befinden wir uns in der Schwebe: er und ich und nichts sonst. Sein Leben – überall um uns herum.
Ich erinnere mich, wie oft dieser Junge verspottet worden ist. So viele Male habe ich gesehen, wie andere Kinder ihn geärgert haben, wie man ihm Beleidigungen an den Kopf geworfen hat. So viele Male habe ich den Kopf weggedreht und so getan, als hätte ich nicht bemerkt, dass er mich beobachtet. So viele Male habe ich ihn nicht verteidigt.
Ich erinnere mich, wie er vorgetreten war und sich den Rekrutern anschließen wollte – und wie die ihn vor der ganzen Stadt wegen seines Beines abgelehnt hatten. Ich erinnere mich an die Demütigung, kann sie förmlich schmecken.
Ich will ihm sagen, dass es mir leidtut. Das hier und alles andere. Doch ich finde die Worte nicht. Er wird schlaff, und ich helfe ihm, sich auf den Boden zu legen. Er versucht nicht, mich zu packen oder mich aufzuhalten, als ich die Klinge aus ihm herausziehe. Er sagt nichts, als ich mich umdrehe und über die Barriere klettere.
Von oben, kurz bevor ich auf die andere Seite springe, schaue ich auf ihn hinab. Seine Hände umklammern das erblühende Rot auf seiner Brust. Sein schlimmes Bein liegt angewinkelt unter ihm. Seine Augen sind auf mich gerichtet.
In diesem Moment weiß ich, dass wir für immer verbunden bleiben werden. Es ist, als wären wir ein und dieselbe Person, als wären wir von einem Blut. Ich will ihm sagen, wie leid es mir tut, will um Vergebung bitten, aber er starrt mich nur an.
Und dann springe ich über die Barriere und laufe durch den Vergnügungspark. Ich will Catcher finden. Mir ist egal, dass ich voller Blut bin und dass der Geruch die Mudo nur noch stärker anziehen wird. Mir liegt nur an Catcher – und daran, vor der schrecklichen Tat wegzurennen, die ich gerade begangen habe.
Ich laufe durch die rissigen Straßen zwischen den Ruinen und versuche den Weg zu Catcher zu finden. Dieses Mal ist heller Tag, und ich kann Dinge erkennen, die mir im Dunkeln entgangen sind. Ich schlängele mich durch die Straßen, bis ich Catchers Gebäude finde, nehme im Hausinnern zwei Stufen auf einmal, ohne auf die Dunkelheit oder mein rasendes Herz zu achten.
Vor der geschlossenen Tür zu seinem Raum zwinge ich mich, stehen zu bleiben und meine verschwitzten Hände an meinem Hemd abzuwischen. Mit leicht zitternden Fingern halte ich Elias’ Messer vor mich.
Jetzt, nachdem ich den
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