Das Meer Der Tausend Seelen
manchmal konnte ich selbst dann die Abgaben nicht zahlen. Ich habe mich den Rekrutern angeschlossen, damit ich die Bürgerrechte bekomme und als ständiger Bewohner der Geschützten Zonen anerkannt werde. Dann hätte ich sie mitnehmen können, ohne weiterhin zu bezahlen. Doch als ich nach der Dienstzeit nach Hause kam, war sie nicht da.« Er macht eine Pause und fährt sich mit der Hand übers Gesicht.
»Ich konnte sie nirgends finden und dachte, sie sei vielleicht gezwungen worden zu gehen. Ich musste sie finden.« Die Worte brechen aus ihm heraus, mit krächzender Stimme erzählt er weiter. »Ein einzelner Mann kann nicht durch das Protektorat reisen. Die Straßen sind zu gefährlich, voll von Ungeweihten und Banditen. In der Hälfte der Städte und Siedlungen wird man nicht mal durchs Tor gelassen, wenn man allein ist.«
Er beugt sich zu mir, sein Atem umwabert uns heiß. »Die Soulers sind vom Protektorat anerkannt. Sie sind Nomaden, die sich frei bewegen und überall Einlass bekommen können. Für meine Suche blieb mir nur die Möglichkeit, mich ihnen anzuschließen.«
Das ist so viel auf einmal, dass ich ganz benommen bin. Alles, was wir je zueinander gesagt haben, muss ich noch einmal im weicheren Licht dieser neuen Information überdenken.
Sein Blick ist so ernst, so voller Schmerz, dass ich ihm glauben möchte. Wie sehr er es braucht, dass ich ihm glaube, kann ich ihm ansehen. »Aber du warst da, als sie diesen Jungen sterben ließen. Wie konntest du nur zusehen? Wie konntest du daran teilnehmen? Wie hältst du es in ihrer Gegenwart bloß aus?«
Er öffnet den Mund, schließt ihn jedoch gleich wieder und presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Sie sind keine Ungeheuer, Gabry. In dieser Welt ist nicht alles schwarz oder weiß. Für das, was sie tun und was sie glauben, haben sie ihre Gründe, genau wie wir.« Er zuckt mit den Schultern. »Meine Schwester bedeutet mir alles. Ich würde alles tun, um sie zu finden.«
Ich schüttele den Kopf, mehr will ich nicht hören. »Ich weiß nicht«, sage ich. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Mein Herz fühlt mit ihm und seinem Schmerz, doch in meinem Kopf kann ich das alles nicht in Einklang bringen, ich verstehe es nicht.
Ich trete aus dem Schatten des Bogens hinaus in die Arena des Amphitheaters und gehe auf Catcher zu. Er steht noch immer da und starrt die Mudo an. Zu weit wage ich mich nicht heran, die Furcht vor ihrem Stöhnen ist zu tief in mir verwurzelt.
Er dreht sich zu mir um. Es ist furchterregend, ihn hier so nah bei diesen Monstern zu sehen.
»Ich will zurück, Gabry«, sagt er. »Ich will, dass alles wieder normal wird.«
Die Mudo hinter ihm nehmen mich wahr und recken ihre Arme nach mir. Ängstlich versuche ich das Unbehagen herunterzuschlucken und die Augen zu verschließen – vor ihnen und vor ihm. Mehr als alles andere auf der Welt wünschte ich, ihm das geben zu können: Normalität. Doch es hat sich zu viel verändert. Meinetwegen können wir nicht zurück.
»Ich kann nicht wieder zurück nach Vista«, sage ich. »Ich habe etwas getan. Ich bin in Schwierigkeiten. Und du kannst auch nicht wieder hin. Sie wissen, dass du in jener Nacht dabei warst. Du wirst mit den anderen weggeschickt werden.«
»Ich verlasse Cira nicht«, sagt er. Seine Stimme umgibt mich, dann packt er meine Hände. Ich öffne die Augen. Er ist so nah, ich muss einfach an die Nacht denken, in der wir uns zum ersten Mal geküsst haben. »Und dich verlasse ich auch nicht«, fügt er sanfter hinzu.
Ich atme langsam aus, Erleichterung mischt sich mit Angst und Schuldgefühlen.
»Wir holen Cira und laufen dann weg«, sagt er drängend. »Wir drei, wir verschwinden irgendwohin.«
»Sie werden dir folgen«, bemerkt Elias. Mein Kopf fährt herum. Er geht an uns vorbei zum hinteren Teil der Bühne, wo Taschen aufgestapelt sind. »Wenn man den Rekrutern etwas wegnimmt, tun sie alles, um es wiederzubekommen. Und«, er zeigt auf Catcher, »wenn sie herausfinden, dass du immun bist, werden sie dich niemals gehen lassen. Du bist viel zu wertvoll für sie.«
Mein Verstand rast, ich überlege, welche Möglichkeiten wir haben, und dann springe ich fast auf, als es mir einfällt. »Das Boot meiner Mutter«, sage ich aufgeregt. »Elias hat es genommen. Hast du es noch?«, frage ich ihn. Als er nickt, fahre ich fort. »Wir könnten ihr Boot nehmen. Wir könnten versuchen, uns woanders etwas zu suchen. Seit Jahren hört man nichts mehr von Piraten. Wir
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