Das Meer Der Tausend Seelen
wäre für mein Leben gern stark. Aber ich weiß, ich bin es nicht. Ich bin schwach und ängstlich und zu nichts nütze.« Ich schlucke, und er kommt auf mich zu. Ich denke daran, wie Daniel ausgesehen hat, nachdem ich ihn erstochen habe. Ich denke an die Souler-Frau, die am Tor von Vista getötet wurde. Ich denke an Catcher in der Nacht der Ansteckung.
An all dem habe ich Schuld. Ich bin hier das Monster. »Egal, was ich auch mache, ich vermassele nur alles.«
»Du bist ganz allein über die Barriere geklettert, um Catcher zu helfen«, sagt er, doch ich schüttele den Kopf.
»Das musste ich tun. Die anderen, die in jener Nacht geschnappt wurden, hätten mich sonst angezeigt«, erwidere ich. Er soll aufhören, mich für etwas zu halten, das ich nicht bin.
»Du bist seinetwegen zurückgegangen«, sagt er. »Warum willst du keine gute Meinung von dir haben?«
»Weil ich nicht so bin.« Ich bleibe hart. Mein Herz gerät für einen Moment ins Stolpern, als ich mich frage, ob ich ihm je glauben, ob ich mich je mit seinen Augen sehen könnte, ob mir ein anderer als Catcher das Gefühl geben könnte, etwas wert zu sein. Doch ich schüttele nur den Kopf.
»Dann sag mir, wer du bist.« Er rückt näher.
Wenn er so nah ist, kann ich nicht denken. Seine Worte umkreisen uns, führen uns enger zusammen. Ich will den Mund aufmachen und alles rauslassen: wie ängstlich ich bin, wie fürchterlich es für mich ist, meine Mutter verloren zu haben und mich ständig fragen zu müssen, ob es ihr noch gut geht … Wie konnte sich alles in meinem Leben so schnell verändern, dass mir von morgens bis abends der Kopf schwirrt?
Und dann macht mir noch Sorgen, dass ich niemals wirklich wissen werde, wer ich bin und was ich will. Ich werde wohl immer das Mädchen bleiben, das alles vermasselt. Die Unbeholfene am Rand, die zwar mehr will, doch zu ängstlich ist, es anzupacken.
»Ich weiß nicht mehr, wer ich bin«, flüstere ich.
Er löscht den Abstand zwischen uns aus, bis mein Kopf dröhnt. »Doch, das tust du«, sagt er. Seine Stimme ist über mir und um mich herum, als würden wir nur einen Platz einnehmen. Ich schließe die Augen und warte auf ihn.
Meine Haut kribbelt vor Verlangen, doch er küsst mich nicht. Nicht so wie Catcher. Er lehnt sich an mich, bis unsere Lippen sich gerade eben berühren, unsere Münder sind geöffnet, wir umschlingen uns mit unserem Atem.
Ich will mehr. Ich will, dass er mich fester an sich zieht. Doch das tut er nicht. Wir stehen nur da und berühren uns kaum.
Und dann fangen die Glocken in der Stadt an zu läuten. Ich reiße die Augen auf und stolpere zurück, schlage die Hand auf den Mund, während Erinnerungen an Catcher über mich hereinbrechen: sein Geruch, der Klang seiner Stimme, wie sich seine Haut auf meiner anfühlt. All das hatte ich vergessen – ich habe Elias all das auslöschen lassen.
Scham und Wut tosen in meinem Kopf. Und als könnte er sehen, was da in mir tobt, als könnte er meine Reue wittern, verhärtet sich seine Miene. Er dreht sich um und geht mit großen Schritten den Strand entlang. »Es tut mir leid«, rufe ich ihm hinterher. Doch er reagiert nicht, ich renne ihm nach und versuche ihn zu packen, aber er schüttelt mich ab.
»Wo ist das Rathaus«, fragt er. Seine Stimme klingt kalt und scharf.
»Tut mir leid«, sage ich noch mal, aber er zuckt nur mit den Schultern.
»Wir können uns jetzt nicht um Unwichtiges kümmern. Ihnen wird bald klar sein, dass die Mudo niemanden anstecken können, und vorher müssen wir deine Freundin holen.« Er nimmt den Rucksack, den ich ihm gebracht habe, und wirft ihn sich über die Schulter.
Meine Wangen brennen vor Scham. Ich zeige auf den Pfad, der zur Stadt führt. Sofort geht er los, und ich folge ihm, der kleine Beutel mit Kleidern, Proviant und dem Buch meiner Mutter hüpft dabei auf meinem Rücken. Wie dumm ich mir vorkomme. Doch am allermeisten schmerzt, dass dieser Beinahe-Kuss mir sehr wohl etwas bedeutet hat – und ihm eindeutig gar nichts.
Vista ist ein einziges Chaos aus Schreien und Stöhnen und Blitzen von Waffen. Die Leute strömen in Panik vom Platz in der Stadtmitte, sie laufen durch die Straßen, wollen sich in ihre sicheren Häuser flüchten. In dem Durcheinander bleiben wir unbemerkt, alle sind so sehr in ihrem eigenen Entsetzen gefangen, dass Elias und ich ungehindert zum Rathaus rennen können.
Ich schiebe alle anderen Gedanken von mir und konzentriere mich auf den Augenblick und die Aufgabe, vor der wir jetzt
Weitere Kostenlose Bücher