Das Meer Der Tausend Seelen
sie.
Sie schaut mich lange an, ihre Augen glänzen, und ihr Mund ringt mit hundert Ausreden. Schließlich sagt sie: »Ich konnte sie nicht daran hindern. Ich habe es versucht.« Ihre Stimme ist dünn und versagt fast vor Bedauern. »Es tut mir leid«, flüstert sie. Sie steht vor mir, als würde ich ihr irgendetwas mitteilen können, das alles wieder in Ordnung bringt. Sie streicht mit dem Finger über meine Hand, dann dreht sie sich um und rennt die Treppen hoch.
Mein Blick geht zu Cira und Elias. Ich will ihm sagen, dass sie sich erholen, dass sie wieder gesund wird. Aber an der Art, wie er zur Tür schaut, merke ich, dass er besorgt ist, mehr als besorgt.
»Was machen wir?«, frage ich. Ich denke an das kleine Segelboot, daran, sie durch die Stadt zu schleifen.
»Wir sollten sie hierlassen«, sagt er. Seine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. »Sie braucht Ruhe, sie braucht Leute, die wissen, was zu tun ist. Sie sollte nicht fortbewegt werden.«
Ich schaue Cira an. Die blassen Wangen und weißen Lippen. All das Blut. Er hat recht. Ich weiß, dass er recht hat. Mit ihr setzen wir jede Chance auf Flucht aufs Spiel. Sie wird uns nur behindern.
Ich drücke die Stirn an ihren Kopf. »Cira«, flüstere ich mit Tränen in der Stimme. Ich will sie nach dem Grund fragen, aber ich weiß die Antwort schon. Unvermeidlich , würde sie sagen.
Für den Moment zwischen zwei Herzschlägen fühlt es sich an, als wäre alles meine Schuld. Wäre ich doch in jener Nacht nicht weggelaufen, sondern bei ihr geblieben. Hätte ich mich doch schnappen lassen, um mit ihr eingesperrt und zu den Rekrutern geschickt zu werden. Dann hätte sie jemanden zum Anlehnen gehabt. Jemanden, an dem sie sich hätte festhalten können.
Ich hätte sie aufhalten können. Zusammen hätten wir es geschafft.
»Ich verlasse sie nicht«, sage ich.
Ich lehne mich zurück. Elias sieht mich prüfend an, doch er stellt es nicht infrage. Er nickt nur, nimmt Ciras Arme und umwickelt sie fest mit den Stoffstreifen.
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, erwidert er. »Sie werden feststellen, dass es ein Durchbruch von Souler-Mudo war – und dass von ihnen keine Gefahr, sondern nur Schrecken ausgeht.« Er schaut durch den Raum zum dunklen Treppenhaus, durch das alle anderen weggerannt sind. Er hätte mit ihnen weglaufen können. Er sollte bei ihnen sein, da draußen, und seine Schwester suchen.
»Du kannst gehen«, sage ich. »Du bist nicht für sie verantwortlich.« Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein könnte, diese Worte auszusprechen. Langsam vertraue ich ihm, merke ich. »Und für mich auch nicht«, füge ich noch hinzu.
Er bleibt ruhig und kneift die Augen zusammen. »Ich gehe mit dir, Gabry.«
Ich starre ihn zu lange an. Ich sollte ihm sagen, dass er gehen soll, weil ich ihm nichts geben kann und weil er mit den Soulers besser vorankommt bei der Suche nach seiner Schwester. Doch ehe ich irgendetwas davon aussprechen kann, hat er seinen Rucksack schon aufgesetzt. Er legt den Arm um Ciras Schulter und hilft ihr beim Aufstehen, so vorsichtig und sanft, dass mir der Hals eng wird.
Er wendet sich zur Treppe, und ich schlüpfe unter Ciras anderen Arm. »Danke«, sage ich, obwohl meine Dankbarkeit nicht in Worte zu fassen ist. Er ächzt unter Ciras Gewicht, denn sie kann sich kaum aufrecht halten.
Gemeinsam schaffen wir sie aus dem Rathaus und ins Gewirr der Straßen. Die Fensterläden der umliegenden Gebäude sind verschlossen und verrammelt, die meisten Familien sind in ihren Häusern. Und doch strömen immer noch Leute, hauptsächlich Jungen und Männer, brüllend und mit Waffen fuchtelnd durch die Straßen. Sie rennen auf die Barriere zu und wollen bei der Verteidigung der Stadt helfen.
Leute kommen auf uns zu gerannt und bieten ihre Hilfe an, aber Elias murmelt nur: »Infiziert.« Sie beäugen die blutgetränkten Verbände, hasten davon und lassen uns in Ruhe. Als wir uns dem Stadtrand nähern und den Pfad zum Strand nehmen, bricht eine Gestalt aus der Dunkelheit hervor.
Vor Schreck lasse ich Cira beinahe fallen, und ehe ich nach meiner Waffe greifen kann, hat Elias sein Messer schon mit der freien Hand gezückt.
»Cira«, keucht die Gestalt, und erleichtert stelle ich fest, dass es Catcher ist. Er kommt auf uns zu, fängt an zu rennen, als er seine Schwester schlaff zwischen uns hängen sieht. »Was ist los? Was ist mit ihr passiert?« Er packt sie. »Cira«, ruft er. »Cira, schau mich an!«
Sie schlägt die Augen träge auf,
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