Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
messerscharfen Blick. Als Charlie um die Kurve im Flur verschwand, kam er näher und nahm meine Hände. »Meine Liebe«, begann er.
»Warten Sie«, zischte ich. »Gehen Sie noch nicht.«
Ich trat in den Flur und winkte Charlie und Michelle nach, die gerade lachend das Haus verließen. »Tschüss!«, rief ich. »Ich schicke euch eine Mail!«
»Schon gut«, erwiderte Charlie mit einem anzüglichen Lachen. »Als ob du Zeit zum Mailen haben wirst.« Er schloss die Tür hinter sich.
Ich drehte mich zu Hollander um. »Sie müssen mir helfen«, sagte ich und brach endlich in Tränen aus.
Ich weinte nicht lange. Beim Anblick von Hollanders entsetzter Miene und beim Gedanken an Eric, der noch immer vor der Tür stand, wischte ich mir die Tränen weg.
»Kommen Sie in die Bibliothek«, stieß ich hervor, nahm die Hand des Professors und zog ihn hinter mir her.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Sie haben ihn entführt. Geoff und Arthur. Ich war nur der Köder, um Julian aus dem Restaurant zu locken und ihn dazu zu zwingen, sie zu begleiten. Sie hatten eine Pistole, Professor! Sie werden ihn töten! Helfen Sie mir!«
Er ließ meine Hand los und blieb mitten in der Bibliothek stehen. »Entführt?«, flüsterte er mit heiserer Stimme und blinzelte einige Male. »Julian entführt?«
»Ja«, antwortete ich. »Sie sind in einer schwarzen Limousine in Richtung FDR Drive gefahren. Wohin bringen sie ihn? Was wird hier gespielt?«
Hollander sank langsam aufs Sofa. Seine blauen Augen waren vor Schreck geweitet, und er schlug die Hände vors Gesicht. »Das ist nur meine Schuld«, murmelte er. »Ich habe das Schicksal herausgefordert. Mein Gott, was habe ich getan?«
»Was soll das heißen? Wohin bringen sie ihn?«
Er hob den Kopf. »Es ging um Miss Hamilton, richtig?«
»Ja«, antwortete ich. »Aber es steckt noch mehr dahinter. Arthur hat den Verstand verloren. Ich habe den Eindruck, dass es bei ihm schon länger unter der Oberfläche gebrodelt hat, und die Hochzeit … Geoff ist auch dabei … O mein Gott, vielleicht haben sie ihn schon getötet.« Ich sprang auf und hatte plötzlich Julians Gesicht vor Augen. Reglos, kalt und blutig. Treibend im Fluss. Fort. Tot.
»Beruhigen Sie sich«, wies Hollander mich zurecht. »Ich bin sicher, dass sie ihn nicht töten werden. Schließlich waren sie die besten Freunde. Sind die besten Freunde.«
»Woher wissen Sie das? Er ist völlig durchgedreht, Professor. Geisteskrank! Hat von widerwärtiger Fleischeslust gesprochen und …« Ich schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Er liebt Julian, Professor. Vielleicht ist er sogar in ihn verliebt. Keine Ahnung. Wahrscheinlich ist es ihm selbst nicht klar.«
Hollander stand mit einer wegwerfenden Handbewegung auf. »Nein, nein. Sie missverstehen ihn und übertragen Ihre modernen Vorstellungen auf ihn. Die sentimentalen Konventionen jener Zeit ermutigten zu engen, ja, sogar leidenschaftlichen Freundschaften. Natürlich liebt er Julian. Er idealisiert ihn. Sie haben ihm gegenüber doch hoffentlich nicht erwähnt …«
»Ich fürchte, schon«, gab ich zu. »Doch es hat eigentlich keine Rolle gespielt. Er verabscheut die moderne Welt und die Menschen, die sie bevölkern, von Grund auf. Wahrscheinlich hat er sich früher hinter Flora versteckt und sich in Julians Gefühlen für sie gesonnt. Und jetzt ist es, als hätte Julian ihn zurückgewiesen.« Ich dachte an Arthurs Gesichtsausdruck auf der Treppe und den eiskalten Hass in seinen Augen. »Ich glaube, er wünscht sich seinen Tod«, endete ich bedrückt.
Hollander warf mir einen leicht herablassenden Blick zu. »Oder seinen eigenen. Vermutlich ist Ihnen bekannt, dass Arthur Hamilton sich kurz nach Julians Verschwinden an die Front versetzen ließ, was mehr oder weniger auf einen Selbstmord hinauslief.«
»Und was bedeutet das? Wird er versuchen die Sache zu Ende zu bringen, und Julian muss dabei zuschauen? Und welche Rolle spielt Geoff in dieser Angelegenheit?«
Hollander legte die Finger an die Schläfen, rieb sie und ging dabei im Zimmer hin und her. »Ich bin nicht sicher. Wo könnten sie ihn hinbringen?« Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Das Flugzeug für Ihre Flitterwochen.«
»O mein Gott! Ich habe aber keine Ahnung, wohin er wollte. Ich weiß ja nicht einmal, auf welchem Flugplatz es steht. Moment«, überlegte ich laut, »wahrscheinlich Teterboro. Dort starten alle Privatmaschinen. Oder Westchester. Ich kann ja bei NetJets anrufen, oder? Schließlich bin ich
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