Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
umdrehen wollte, um Julians Gesicht zu sehen.
Nicht zittern. Keine Panik. Entspann dich. Denk an etwas Schönes. Denk daran, wie Julian dich im Arm hält. An sein Gesicht. Seinen Geruch. Seine Küsse. Alles wird gut. Du wirst nicht sterben. Wir hatten noch nicht einmal unsere Hochzeitsnacht. Also kommt sterben nicht in Frage.
An der 96. Straße bogen wir rechts ab. Ich fragte mich, ob Julian wohl noch hinter uns war. Sicher fuhren wir zum FDR. Etwas anderes gab es in dieser Richtung nicht.
Allerdings hatte ich mich geirrt. Am Häuserblock zwischen der First und der Second Avenue hielten wir an. Arthur zerrte mich aus dem Auto und die Vortreppe einer Mietskaserne ohne Aufzug hinauf. Als er einen Knopf auf dem Klingelbrett neben der Tür betätigte, wurde sofort aufgemacht. Offenbar war er erwartet worden. Er stürmte ins Haus und zog mich mit, gerade als ein Ruf von draußen mir sagte, dass Julian und sein Begleiter aus dem Maserati gesprungen waren und uns zum Gebäude folgten.
Sie erreichten die Tür, bevor sie ins Schloss fiel, und ich hörte, dass sie hinter uns durch die schäbige Eingangshalle rannten. Arthur schleppte mich die Treppe hinauf. Ich schlurfte mit den Füßen, damit er langsamer vorankam, und versuchte mich umzuschauen. Er stieß mich auf den ersten Treppenabsatz und presste mir die Pistole an die Schläfe.
Geoff. Julians Begleiter war Geoff. Die beiden starrten uns entgeistert an.
Ich versuchte meine Mimik zu beherrschen. Schließlich wollte ich nicht, dass Julian in seiner Panik etwas Übereiltes tat. Sein Blick aus lodernden Augen traf meinen. Alles in Ordnung, formte ich mit den Lippen. In Ordnung.
Er nickte fast unmerklich und wandte sich dann an Arthur. »Leg die Pistole weg, Arthur«, sagte er leise. »Kate hat dir nichts getan. Es ist nicht ihre Schuld, sondern meine.«
»Nein!«, stieß ich hervor.
»Pst, Kate«, sagte er beruhigend. »Leg die Waffe weg, Arthur. Lass sie frei. Und dann setzen wir uns zusammen und reden. Natürlich bist du aufgebracht. Lass sie einfach frei.« Unauffällig setzte er den Fuß auf die nächste Stufe.
»Bleib stehen«, entgegnete Arthur, ohne mit der Wimper zu zucken. »Sonst erschieße ich sie.« Julian erstarrte. »Du hast recht«, fuhr Arthur fort. »Es ist nicht ihre Schuld. Sie kannte meine Schwester nicht. Sie hat sie nicht betrogen. Und damit sämtliche Grundsätze, die wir früher in Ehren gehalten haben.«
»Nein, hat sie nicht«, stimmte Julian zu. »Also lass sie frei. Dann komme ich mit dir, und wir klären alles.«
»Nein!«, protestierte ich. »Julian, nicht. Geh nicht mit ihm.«
Niemand achtete auf mich. Julian und Arthur fixierten einander mit Blicken wie zwei Hunde in der Kampfarena. Geoff stand still und gleichmütig daneben wie ein unbeteiligter Zuschauer. Tu etwas, dachte ich zornig. Schließlich sind die beiden deine Freunde, verdammt.
»Lass sie los«, wiederholte Julian in dem verlockenden Ton, dem ich nie widerstehen konnte. »Ich komme mit dir. Freiwillig und ohne Widerstand zu leisten.«
»Julian, nein«, flüsterte ich entsetzt. »Sei kein Idiot.«
Im Treppenhaus herrschte dröhnendes Schweigen. Irgendwo oben polterte etwas. Dann hallte gedämpftes Babygeschrei durch die Wände. Warum kommt denn niemand?, dachte ich verzweifelt. Warum hört und sieht niemand etwas und ruft die Polizei?
»Also gut«, erklärte Arthur plötzlich. »Habe ich dein Ehrenwort?«
»Mein Ehrenwort«, bestätigte Julian. Seine Schultern entspannten sich. »Lass sie unverletzt frei, und ich begleite dich. Wohin du willst. Wir finden eine Lösung.«
Arthur vollführte eine ungeduldige Handbewegung. »Deine Pistole, bitte. Aber langsam.«
»Er hat keine Pistole«, stieß ich wütend hervor.
Julian schien mich nicht gehört zu haben. Er musterte Arthur eine Weile mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen. Dann griff er seelenruhig in die Sakkotasche, holte einen kleinen dunklen, matt schimmernden Gegenstand heraus und kam die Treppe herauf auf uns zu.
»O mein Gott! Du hattest eine Pistole dabei!«, sagte ich entsetzt.
Er entgegnete nichts. Seine Augen waren weiter auf Arthur gerichtet.
»Langsam«, wiederholte Arthur. »Vergiss nicht, du hast mir dein Ehrenwort gegeben.«
Genau zwei Stufen unter uns blieb Julian stehen. Er verzog keine Miene, doch ich bemerkte, dass sich seine Brust schneller hob und senkte als sonst und dass an seinem Hals eine Ader pulsierte. Er legte die Pistole in Arthurs linke Hand und trat dann drei Stufen zurück.
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