Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
»Er hat mir nicht viel darüber erzählt. Doch ich glaube schon. Wie kommst du darauf?«
»Ach, Schatz, das merkt man einfach.« Sie kicherte.
»Was ist?«
»Das sollte ich dir besser nicht sagen. Du wirst mich umbringen.«
»Was?«
»Es liegt an seinem Benehmen. Er ist sehr förmlich. Ein bisschen altmodisch. Hat eine gute Erziehung genossen. Hält er dir die Tür auf?«
»Ja«, gab ich zu.
»Siehst du. Lass ihn bloß nicht entwischen.«
Leichter gesagt als getan. »Schon gut, Mom.« Ich tätschelte ihr das Knie. »Lass uns aufstehen und das Bett ausklappen. Wie lange bleibst du übrigens?«
»Mein Rückflug geht am Sonntagmorgen. Mit einem Aufenthalt Samstagnacht war es viel billiger.«
Wir klappten das Schlafsofa aus, machten das Bett und gingen nacheinander ins Bad. »Ich hänge für Brooke einen Zettel an die Tür, damit sie dich nicht weckt«, sagte ich.
»Deine Mitbewohnerin.« Sie schüttelte den Kopf.
»Ich weiß, ich weiß. Gute Nacht.« Ich küsste sie auf die Wange.
»Gute Nacht, Schatz.«
Ich schrieb den Zettel, klebte ihn an die Tür und legte mich ins Bett, wo ich lange wach blieb, lauschte, wie mein Herz ruhelos gegen meine Rippen hämmerte, und mir einredete, dass nur der Kaffee schuld daran war.
Frank, der Tagesportier, empfing mich am nächsten Morgen um halb sieben am Aufzug. »Sie haben Besuch«, verkündete er mit einem breiten Grinsen und wackelte mit den Augenbrauen. »Ich wollte gerade oben anrufen.«
Mein Herz machte einen Satz bis in die Nebenhöhlen, und ich spähte am Empfangstisch vorbei in die Vorhalle.
Da stand Julian, übermenschlich strahlend und mit einer weißen Papiertüte in der Hand. Ich lief ihm entgegen. »Guten Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen.« Er drückte mir einen raschen Kuss auf die Lippen und nahm mir die Laptoptasche von der Schulter. »Ich dachte, ich fahre dich heute zur Arbeit.«
»Aber das liegt nicht gerade auf deinem Weg«, wandte ich ein.
»Dann wäre es auch nicht annähernd so ein Spaß.«
Er begleitete mich nach draußen, wo ein eleganter dunkelgrüner Sportwagen fahrbereit am Straßenrand wartete. Julian hielt mir die Beifahrertür auf, ich duckte mich hinein und ließ mich in die Lederpolster sinken.
Die Tür auf der anderen Seite öffnete sich, Julian nahm Platz und legte den Gang ein. »Hübsches Auto«, murmelte ich und hielt mich am Sitz fest, als der Wagen einen Satz vorwärts machte.
»Eine Neuerwerbung. Ich habe schon befürchtet, du könntest nicht einverstanden sein.«
»Jedenfalls besser als die U-Bahn. Was ist denn in der Tüte?«
»Bagels. Das verstößt nicht gegen die Regeln, oder?«
»Kommt drauf an, wo du sie gekauft hast«, erwiderte ich und öffnete die Tüte. Es waren mindestens sechs Stück.
»Ich war nicht sicher, welche Geschmacksrichtung du am liebsten magst«, erklärte er. »Also habe ich alle genommen.«
Ich griff nach einem Blaubeerbagel und biss hinein. »Lecker«, sagte ich. »Welchen möchtest du?«
»Oh, ich glaube, Blaubeer.«
»Zu spät. Zimt und Rosinen?« Ich reichte ihm den Bagel.
In den nächsten Minuten verspeisten wir schweigend das Gebäck. Julian war ein ruhiger und vorausschauender Fahrer, der sich mit möglichst wenig Abbiegen und Spurwechseln durch die verstopften Straßen schlängelte.
»Wie hast du geschlafen?«, fragte ich.
»Schauderhaft. Ich habe dich vermisst. Und du?«
»Eigentlich recht gut. Sehr schön geträumt.«
Lächelnd warf er mir einen Seitenblick zu. »Wovon?«
»Tut mir leid, aber das geht nur mich und mein Unbewusstes etwas an.« Ich hielt inne. »Woher wusstest du, dass ich heute früher zur Arbeit muss?«
»Oh, ich hatte keine Ahnung.« Nach einem Blick in den Rückspiegel wechselte er auf die linke Spur. »Ich wollte Joey bitten, dich anzurufen.«
»Frank«, verbesserte ich ihn. »Joey ist der Abendpförtner. Was, wenn ich noch im Bett gelegen hätte?«
»Dann hätte ich dich natürlich aus den Federn geworfen. Ich bin normalerweise vor sieben im Büro.«
Ich sah auf die Uhr am Armaturenbrett. »Und jetzt kommst du meinetwegen zu spät.«
»Geoff kann ausnahmsweise mal die Stellung halten.«
»Wenn ich an all die Geschäftsabschlüsse denke, die du verpasst …«
Er lachte. »Zerbrich dir nicht darüber den Kopf. Die Märkte werden auch ohne mich überleben. Ich allerdings unmöglich ohne dich.«
Mir fiel darauf keine Erwiderung ein.
Er sah mich an. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Ich habe nur noch immer das Gefühl, dass das hier bloß ein
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