Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
mir leid«, erwiderte ich. »Meine Mom bleibt bis Sonntagmorgen.«
»Dann kann sie ja mitkommen.«
Ich schnaubte. »Wirklich, Julian, ich glaube, nicht einmal Dante hätte sich etwas Schlimmeres ausmalen können. Neuer Versuch.«
»Sonntagnachmittag?«
»Äh … geht nicht, Ballettunterricht.« Ich senkte den Kopf und fügte verlegen hinzu: »Ich darf keine Stunde mehr verpassen, sonst schmeißen sie mich raus.«
»Ballett? Ich hatte ja keine Ahnung. Wann ist Schluss?«
»Um halb sieben.«
»Ich hole dich ab.« Sein Lächeln wurde breiter, und er streckte die Hand aus, um eine aus dem Gummiband gerutschte Haarsträhne festzustecken. »Einen schönen Tag, Liebling.«
»Dir auch«, sagte ich und hastete über den Vorplatz des Gebäudes davon, ehe er Gelegenheit hatte, mich zu einer peinlichen öffentlichen Darbietung zu verleiten.
Julians Kuss strahlte auf meinen Lippen wie eine Neonreklame, als ich die Sicherheitsschleuse passierte und mit dem Aufzug in meine Etage fuhr. Die Finanzwelt ist im Grunde genommen nichts anderes als ein reibungslos funktionierender Apparat zur Nachrichtenübermittlung, wobei sich Skandalgeschichten an der Wall Street wohl am raschesten ausbreiten. Inzwischen wusste sicher die ganze Firma, wenn nicht gar die ganze Stadt, dass ich die gestrige Wohltätigkeitsgala im Museum of Modern Art in der Begleitung von Julian Laurence verlassen hatte.
So sehr war ich im Strudel meiner Verlegenheit gefangen, dass ich den fehlenden Morgenkaffee erst bemerkte, als ich bereits am aufgeklappten Laptop im Refugium meiner Arbeitskabine saß.
Zum Glück hatte die Warteschlange bei Starbucks noch nicht ihren morgendlichen Höhepunkt erreicht. Als ich sechs Minuten später, immer noch wie elektrisiert, schwungvoll die Kante meines Schreibtischs umrundete, hätte ich mich beinahe auf Alicia Boxers Schoß gesetzt.
»Alicia!«, rief ich aus.
Sie sprang von meinem Stuhl auf. »Oh, Kate! Entschuldigen Sie. Ich habe nur eine Datei gesucht.«
Mein Ton wurde eiskalt. »Ich schicke alles an den Server.«
»Ich weiß.« Sie lächelte entschuldigend. »Aber ich habe sie nicht gefunden. Also dachte ich, ich schaue mal auf Ihrer Festplatte nach.«
Ich betrachtete den Bildschirm meines Laptops. »Von welcher Datei reden Sie?«
»Das Angebotsmemo für die Wechselkurssache.«
»Das ist auf dem Server. Unter Kunden.«
»Ach, Kunden «, wiederholte sie, als hätte sie gerade eine Erleuchtung gehabt. Sie wirkte abgekämpft, ihre Augenringe hatten die Größe und Farbe von Trockenpflaumen, und das Haar hing ihr schlaff über die Ohren. Doch angesichts dessen, wie angeheitert sie am Vorabend gewesen war, wunderte es mich, sie überhaupt um diese Uhrzeit hier anzutreffen. »Wow, sind Sie fleißig. Wie ist es übrigens gestern gelaufen? Ich habe gehört, Sie seien mit Julian Laurence aufgebrochen. Ich habe ihn gar nicht dort gesehen.«
»Wir sind uns draußen zufällig begegnet.«
»Wie gerissen! Das gefällt mir. Netter Artikel auf Seite sechs übrigens. Damit ist es mit Ihrer Jungfräulichkeit vorbei. Jetzt sind Sie jemand in dieser Stadt.«
»Um Himmels willen«, erwiderte ich. »Stört es Sie, wenn ich weiterarbeite? Ich habe eine Menge zu tun und würde gerne um acht nach Hause gehen.«
»Hm, ich wittere ein heißes Rendezvous. Ich schließe das Fenster für Sie.« Sie streckte die Hand aus, klickte etwas an, und der Bildschirmhintergrund erschien. »So, jetzt gehört er wieder Ihnen. Sagten Sie, im Kundenordner?«
»Genau.«
»Verstanden. Bis später.«
Als ich mich setzte, spürte ich leicht angewidert ihre Körperwärme. Was zum Teufel führte sie im Schilde? Warum schnüffelte sie in meinem Laptop herum? Um ihre unersättliche Neugier zu stillen?
»Charlie«, sagte ich, als er zwei Stunden später hereingewankt kam und sich in der Arbeitskabine neben mir auf seinen Stuhl fallen ließ. »Gibt es auf meinem Computer ein Verzeichnis, in dem steht, welche Dateien zuletzt geöffnet worden sind?«
»Klar, gibt es bestimmt«, antwortete er, trank einen Schluck Kaffee und schloss mit schmerzverzerrter Miene die Augen. »Aber da musst du jemanden aus der Technik fragen. Du hast nicht zufällig Advils dabei? Meine dämlichen Kopfschmerztabletten waren abgelaufen, was das auch immer bedeuten soll.«
»Ich glaube schon.« Ich griff nach meiner Tasche und fing an zu wühlen. Normalerweise hatte ich stets eine kleine Dose für Notfälle bei mir.
»Danke.« Er spülte drei Gelkapseln mit einem weiteren Schluck
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