Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
geben.« Ich hörte ein Prusten. Er legte auf.
Sie?
Die Hand vor die Stirn gepresst, sackte ich gegen die Wand.
Julian stand auf. »Wer ist es?«, fragte er. »Deine Mitbewohnerin?«
»Viel schlimmer«, stöhnte ich. »Meine Mutter.«
8
H allo, Mom«, sagte ich und öffnete die Tür. »Ich habe gar nicht mit dir gerechnet.«
»Schatz, ich habe mir ja solche Sorgen gemacht. Du bist nicht ans Telefon gegangen.«
»Ach ja. Ist wahrscheinlich noch abgeschaltet.« Ich küsste sie auf die Wange und umarmte sie. »Äh … Mom …«
Julian trat vor. Keine Sorge, hatte er mir vor einer Sekunde versichert, Mütter lieben mich. »Guten Abend, Mrs. Wilson«, begrüßte er sie mit seiner melodischen Stimme. »Es ist mir wirklich ein Vergnügen.«
Sie starrte ihn einfach nur an – sein Gesicht, seine Statur, seine massive Präsenz, seinen Frack und die schuldbewusst zu beiden Seiten des offenen Kragens herunterhängende Fliege.
Ich räusperte mich. »Äh … Mom«, sagte ich, »das ist Julian, ein Freund von mir. Julian Laurence.«
»Oh«, krächzte sie.
Ein strahlendes Lächeln auf den Lippen, streckte Julian die Hand aus. »Vermutlich sind Sie gerade mit dem Flugzeug angekommen«, sagte er.
Sie legte die Hand in seine und gestattete ihm, sie zu schütteln. »Ja«, antwortete sie. »Ich habe mir solche Sorgen um Kate gemacht. Schon damals, als sie nach New York zog, habe ich …«
»Mom, ich habe dir doch erklärt, dass alles in Ordnung ist«, unterbrach ich sie. »Es war wirklich reiner Zufall.«
»Anscheinend«, erwiderte sie, ohne den Blick von Julian abzuwenden, »bin ich Ihnen zu Dank verpflichtet, junger Mann.«
Ich zuckte zusammen. Junger Mann. Du meine Güte!
»Keine Ursache, wirklich nicht«, entgegnete er. »Kate ist eine ausgesprochen selbständige junge Frau.« Und dann ließ er sein wunderschönes breites Samstagabendlächeln erstrahlen, dem keine Frau widerstehen konnte.
Mom auch nicht. Ich beobachtete, wie sie dahinschmolz wie Butter in der Sonne, und verdrehte die Augen in Julians Richtung. »Komm, Mom. Es ist noch etwas Kaffee da. Wo ist dein Gepäck?«
»Oh«, meinte sie geistesabwesend, »der nette junge Bursche unten bringt es mir.«
»Joey?«
»Heißt er so?«
»Setzen Sie sich doch, Mrs. Wilson.« Julian wies aufs Sofa. »Sie sind sicher müde. Wann ist Ihr Flugzeug denn gelandet?«
»Um halb elf«, antwortete sie.
»Ich hole Ihnen eine Tasse.«
Ich verschränkte die Arme. »Kaffeebecher sind im Schrank rechts von der Spüle«, rief ich ihm nach, als er um die Ecke in der Kochnische verschwand.
Mom sah mich mit großen Augen an und formte mit den Lippen das Wort wow .
»Ja, ich weiß«, nuschelte ich.
Es läutete an der Tür. Joey. Ich machte auf.
»Hier sind Ihre Sachen, Kate.« Ein hämisches Grinsen. »Alles in Ordnung?«
»Ganz wunderbar, Joey. Vielen Dank auch.«
Ich nahm ihm das Gepäck ab. Mom war endlich in der Moderne angekommen und hatte ihren Hartschalenkoffer von Samsonite, etwa Baujahr 1962, durch eine schwarze Tasche auf Rollen ersetzt. Wie alle anderen hatte sie eine Kordel mit regenbogenbunten Streifen darumgewickelt, um sie auf dem Gepäckband zu erkennen. Ich zog die Tasche ins Wohnzimmer, wo Julian meiner Mutter gerade einen Becher Kaffee reichte.
»Er war lauwarm«, verkündete er, »also habe ich ihn in die Mikrowelle gestellt. Ist er zu heiß?«
»Oh, er ist gerade richtig so … Gerade richtig.« Sie blickte zwischen uns beiden hin und her. »Und«, begann sie, »habt ihr jungen Leute Spaß gehabt?«
Ich starrte sie eine volle Sekunde lang finster an, bevor ich etwas erwiderte. »Sehr. Wir waren bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Julian hat mich nach Hause gebracht.«
»Apropos«, sagte er und sah auf die Uhr, »ich sollte jetzt besser gehen.«
Mom holte tief Luft. »Lassen Sie sich von mir nicht vertreiben, Julian, falls Sie bleiben wollten. Ich übernachte immer hier auf dem guten alten Schlafsofa.« Sie klopfte darauf, um ihre Worte zu untermauern. »Es ist sehr bequem.«
Ich wünschte, der Erdboden würde sich auftun.
»Wirklich zu nett von Ihnen, Mrs. Wilson«, erwiderte Julian mit einem kaum merklichen Zittern in der Stimme. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Es war reizend, Sie kennenzulernen.« Er lächelte mir zu. »Sie haben eine wundervolle Tochter großgezogen.«
»Sie müssen wirklich nicht weg«, beharrte sie.
»Mom«, wandte ich rasch ein, »er will gehen. Ich will auch, dass er geht. Es ist nicht so, wie du
Weitere Kostenlose Bücher