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Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Das Meer der Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatriz Williams
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Gedächtnis zu rufen. Das Schweigen im Raum war so geballt, dass ich glaubte mein erwartungsfroh pochendes Herz hören zu können.
    Dann wanderte sein Blick zu seinen Händen, und die ersten Töne stiegen auf und hingen – warm, makellos und so vertraut – träge in der Luft.
    Wie oft hatte ich dieses Stück bereits gehört? Es war wie ein alter Freund, jemand, den wir unabhängig voneinander schon unser ganzes Leben gekannt hatten, ohne es zu ahnen. Langsam brachten die Töne die Nähe um uns herum in Bewegung und waren eher eine Frage, ein Nachhorchen, als würde Julian zärtlich die Hand nach mir ausstrecken, um etwas von mir in Erfahrung zu bringen oder das Unaussprechliche auszusprechen.
    Wie gerne hätte ich ihm geantwortet und Ja! Ja! gerufen. Doch stattdessen beobachtete ich ihn nur gebannt. Ich sah zu, wie sich seine Züge konzentriert anspannten, als er sich den Klängen, den perlenden Läufen und den leidenschaftlichen Crescendi hingab. Seine Augen folgten den Händen auf den Tasten.
    Dass er dieses Stück liebte, merkte man ihm an. An manchen Stellen, die man mit unterdrückter Leidenschaft hätte beschreiben können, schlossen sich seine Lider, wie um ein intensives Gefühl festzuhalten. Er ist sinnlich, schoss es mir durch den Kopf. Ein von Grund auf sinnlicher Mann. Seine Küsse und Berührungen und das geschickte Gleiten seiner Finger über die Klaviertasten, um ihnen diese lebendige Musik zu entlocken – es war ein und dasselbe.
    Seine Stimme hallte in meinem Ohr: Falls wir es tun. Wenn wir es tun.
    Er beendete das Stück, indem er den leisen Schlussakkord in der Luft verklingen ließ. Einen Moment lang herrschte eine tiefe Stille. Dann drehte er sich mit leicht entschuldigender Miene und fragend hochgezogener Augenbraue zu mir um.
    Ich brachte kaum ein Wort heraus. »Das war wundervoll. Ich danke dir so sehr. Ich … Wow, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Spiel noch etwas.«
    Er verdrehte scherzhaft die Augen. »Offenbar keine Musikkennerin, wie ich zu meiner großen Erleichterung feststellen muss.« Er hielt inne und stimmte dann ein anderes bewegtes und strahlendes Stück an.
    »Was ist das?«, fragte ich und betrachtete sein Gesicht.
    »Beethoven«, antwortete er. » Appassionata . Erster Satz.«
    »Hm.« Ich lauschte einen Moment, bis die Melodielinie klar auszumachen war. »O ja, das habe ich schon mal gehört«, murmelte ich, als ich es erkannte.
    »Das will ich hoffen.«
    »Wo hast du Klavierspielen gelernt?«
    »Unzählige Klavierstunden in meiner Kindheit.« Eine kleine Pause entstand. »Außerdem übe ich noch immer ziemlich viel. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann.« Er schwieg und spielte ein paar Takte. »Woher kennst du dich so gut mit Chopin aus?«, erkundigte er sich dann.
    »Mein Vater hat immer die Platten abgespielt. Er sagte, das sei gut für die Seele.«
    Lächelnd warf er mir einen Blick zu, bevor er sich wieder der Tastatur zuwandte. »Ich glaube, dein Vater gefällt mir.«
    »Er ist nur ein ganz normaler Durchschnittsvater.«
    »Stimmt nicht. Immerhin hat er dich großgezogen. Ich kann mir vorstellen«, fuhr er nach einer Weile fort, »dass du in deiner Jugend das Gefühl hattest, nicht wirklich dazuzugehören. Anders zu sein als die anderen. Habe ich recht?«
    Ich rutschte auf dem Sofa hin und her. »So geht es doch allen irgendwann. Es entspricht der menschlichen Eitelkeit, sich für etwas Besonderes zu halten, oder?«
    »Und jetzt?«
    »Wahrscheinlich bin ich manchmal wirklich so etwas wie eine Außenseiterin«, gab ich zu. »Nicht, dass ich mich über die anderen stellen würde. Eher das Gegenteil. Ich bin eben nicht cool genug für Manhattan.«
    Er schüttelte den Kopf. »Eine Rose, umgeben von Löwenzahn.«
    »Wohl kaum.«
    Anstelle einer Entgegnung lächelte er nur und spielte die Sonate weiter. Mit äußerster Konzentration widmete er sich dem komplizierten Rhythmus der letzten Minute und schloss die Augen, als sie verklang.
    »Ach, jetzt gibst du an«, sagte ich zu ihm. Er hob den Kopf und zwinkerte. Nach einem Schluck Wein begann er das nächste Stück und spielte, als wäre ich gar nicht anwesend.
    Offenbar nickte ich irgendwann ein, denn als ich die Augen aufschlug, kauerte Julian vor mir und nahm mir das halbleere Weinglas ab. »Du schläfst ja schon«, sagte er leise und strich mir das Haar hinters Ohr. »Ich bringe dich nach Hause.«

    Wortlos und Hand in Hand gingen wir zu dem Haus, in dem ich wohnte. Wir hatten heute lange Gespräche geführt,

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