Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
ist noch nicht lange her.«
Sein Ton wurde reumütig. »Ich muss mich vielmals bei Ihnen entschuldigen. Wie konnte ich nur so gefühllos sein? Verzeihen Sie mir. Das Leben in der Armee kann ziemlich abstumpfend wirken.«
»Ich verzeihe Ihnen«, erwiderte ich mit einem gezwungenen Lächeln. »Und ich erzähle Ihnen später von ihm.« Ich hielt inne. »Ich habe ihn sehr geliebt.«
»Er muss ein Glückspilz gewesen sein.«
Unsere Schritte klapperten im Gleichtakt auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Ich blickte hinunter und beobachtete, wie die Spitzen meiner festen Schuhe neben seinen größeren auftauchten und wieder verschwanden. Von der Ecke vor uns hallte angespanntes Gelächter durch die dunstige Abendluft zu uns herüber und durchbrach die unnatürliche Stille, in die der Krieg die Stadt gehüllt hatte – andere Leben, andere Geschichten, zum Zeitpunkt meiner Geburt längst wieder zu Staub zerfallen. »Also gut, Ashford«, ergriff ich plötzlich das Wort. »Sie haben es nicht anders gewollt. Deshalb werde ich kein Blatt vor den Mund nehmen und es aussprechen. Sie verlassen Amiens am Donnerstag, richtig?«
»Ja, wie ich bereits sagte.«
»Warten Sie, da kommt noch mehr. Dann werden Sie mir vielleicht glauben: Ich weiß, wie und wann dieser Krieg enden wird. Ich weiß sogar genau, wie der nächste anfängt. Ich weiß … ich weiß, dass Florence Hamilton 1921 einen Mann namens Richard Crawford heiraten und ihm drei Kinder gebären wird, Robin, Arthur und Sophia. Robin wird in den fünfziger Jahren Parlamentsabgeordneter für Hatherleigh und einige Jahre später in einen Skandal wegen kommunistischer Spionage verwickelt werden.«
Julian blieb wie angewurzelt auf dem nassen Kopfsteinpflaster stehen. Er erinnerte mich an ein Kriegerdenkmal auf irgendeinem Dorfplatz. »Gütiger Himmel«, murmelte er.
»Im kommenden Jahr«, fuhr ich fort, »werden die Bolschewiken in Russland eine Revolution anzetteln und das Land in eine kommunistische Diktatur verwandeln. 1929 wird es einen Börsenkrach geben, die erste Katastrophe in einem Jahrzehnt des wirtschaftlichen Abschwungs. 1969 werden dann die ersten Menschen auf dem Mond landen und darauf herumgehen.«
»Gütiger Himmel«, wiederholte er.
»Was noch? Ach, das ist einmal eine gute Nachricht. 1979 wird Großbritannien den ersten weiblichen Premierminister wählen. Und … oh, das genaue Jahr habe ich vergessen, wird ein Prince of Wales den Thron besteigen und ein Jahr später wieder abdanken, um eine geschiedene Amerikanerin zu heiraten. Tut mir leid, ich habe Probleme mit der zeitlichen Reihenfolge. Der springende Punkt ist, Julian, dass ich Ihnen nun etwas sehr Merkwürdiges sagen muss. Etwas, das Sie mir niemals glauben werden. Aber ich kann es beweisen. Ich habe die Beweise bei mir. Julian, hören Sie mich an. Ich wurde im Jahr 1983 geboren.«
Er starrte mich an, als wäre ich ein Gespenst.
»Ich wurde 1983 geboren«, fuhr ich fort, »und ich kann Ihnen fast alles erzählen, was in der Welt bis zum Jahr 2008, als ich aufgebrochen bin, geschehen ist. Hierher, zu dir. Erst vor einer Woche habe ich in meiner Zeit im Internet gesurft und einen Milchkaffee getrunken. Einen leckeren heißen, frisch … frisch aufgebrühten … Milchkaffee.« Meine Stimme begann zu zittern.
»Du bist 1983 geboren«, murmelte er und starrte mich weiter an.
»Ich weiß, ich weiß, mir ging es genauso, als ich … als mir das Gleiche passiert ist. Als mir jemand so etwas erzählt hat.« Ich griff nach seinen Händen und trat einen Schritt auf ihn zu, so nah, dass ich seinen süßen, nach Wein riechenden Atem auf dem Gesicht spürte, um ihn festzuhalten, bevor er mir entglitt. »Bitte, Julian«, flüsterte ich, »versuche einfach, nicht an das Wie zu denken. Wage einfach den Sprung ins kalte Wasser und verstehe …«
»Das ist ja wundervoll!«, rief er plötzlich aus und drückte meine Hände. »Wirklich wundervoll! Mein Gott! Wie der Bursche in dem Buch! Also bist du aus der Zukunft? Ist das tatsächlich möglich?«
Ich machte den Mund auf und wieder zu. Genau in diesem Augenblick traf ein einzelner Regentropfen mit denkwürdiger Genauigkeit meinen Haaransatz. »Du glaubst mir? Einfach so?«
»Das erklärt alles. Du bist so völlig anders und so unbeschreiblich originell. Natürlich. Das hätte mir gleich klar sein müssen! Zweites Gesicht, aha.« Er lachte. »Erzähl mir alles. Erzähl mir … erzähl mir vom Mars. Warst du schon auf dem Mars?«
Ich betrachtete ihn –
Weitere Kostenlose Bücher