Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
niemanden gehabt.«
»Das dachte ich anfangs auch«, meinte er. »Und dann saß ich 1998 eines Morgens in der U-Bahn und schaute genau in das Gesicht von Geoffrey Warwick.«
»Geoff?«
»Er war in Frankreich einer meiner Lieutenants. Und ein Freund in Cambridge. Laut British National Archive ist er im Juli 1916 am ersten Tag an der Somme gefallen.«
15
I ch sprang auf. »Soll das heißen, dass Geoff auch aus deiner Zeit ist? Geoff?« Ich versuchte mir sein Gesicht und seine Stimme ins Gedächtnis zu rufen, denn ich hatte ihn ja nur zweimal gesehen. »Aber er ist Amerikaner, oder? Jedenfalls klang er wie einer.«
Julian lehnte sich an eines der eingebauten Bücherregale, die das Fenster flankierten. »Geoff hat sich ein wenig schneller an die veränderte Lage angepasst als ich«, entgegnete er. »Er hat es als gottgegeben hingenommen und sich früh entschieden, das Beste daraus zu machen. Außerdem hatte er nicht viel zurückgelassen, beide Eltern tot, keine engen Bindungen. Die Papiere, die man ihm gegeben hatte, wiesen ihn als Amerikaner aus. Also hat er sich den entsprechenden Akzent zugelegt, ist hierhergezogen und hat als Investment-Analyst angefangen.«
»Warum ausgerechnet an der Wall Street?«, erkundigte ich mich benommen.
»Sein Vater war Finanzmakler in der Londoner City. Eigentlich hätte er die Firma übernehmen sollen.«
»Oh.« Ich schluckte und hatte Mühe, das alles zu begreifen. »Das ist ja unfassbar! Wie konnte das geschehen? Das ist, als wärt ihr alle Geister. Oder als würde jemand an einer Zeitmaschine herumspielen. Und ihr habt nie herausgefunden, was dahintersteckt?«
»Nein, nie. Zugegeben, Geoff hat sich nie darum gekümmert. Ihm gefällt das Leben hier. Er hat mich in die Firma geholt, bei der er damals tätig war, und mich dann zur Gründung von Southfield ermutigt, nachdem ich beim Verwalten von Portfolios ein glückliches Händchen gehabt hatte. Um dieselbe Zeit hat er Carla kennengelernt, sie geheiratet …«
»Weiß sie Bescheid?« Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass die bürgerliche Mrs. Warwick in diese Dinge eingeweiht war.
»Carla?« Julian lachte auf. »Nein.«
»Wie hält er es vor ihr geheim? Sie muss doch im Lauf der Jahre gemerkt haben, dass hier und da etwas im Busch ist. Keine Familie. Außer dir keine Jugendfreunde.«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie ist keine sehr neugierige Frau.«
»Wow!«, stieß ich hervor. »Wow!«
»Fühlst du dich nicht wohl?«
»Vielleicht setze ich mich besser«, gab ich zu und ließ mich vorsichtig aufs Sofa sinken. Julian durchquerte das Zimmer und legte die Arme um mich, kaum dass ich das Polster berührte.
»Es tut mir leid«, murmelte er. »Ein Schock nach dem anderen.«
»Nein! Ich meine, inzwischen sollte ich daran gewöhnt sein. Und entschuldige dich nicht dauernd. Mein Gott, ich bin ja so froh, dass du damals nicht allein warst. Es ist einfach nur unfassbar. Ein Kameradschaftstreffen ehemaliger Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg mitten in New York, und niemand ahnt etwas davon.« Ich schüttelte den Kopf. »Und wer war der Mann in der Park Avenue?«
Julian lachte spöttisch auf. »Andrew Paulson. Der Arme, obwohl er nicht so indiskret hätte sein dürfen. Ich habe Geoff damit beauftragt, ihn aufzuspüren.«
»Und was machst du, wenn du ihn findest?«
»Ihm helfen, natürlich. Falls er Hilfe braucht. Eine Stelle in der Firma oder etwas dergleichen. Oder einfach nur Anteilnahme.« Trotz seines beiläufigen Tons hörte ich ihm an, dass es ihn nicht kaltließ.
»Wer war er?«, fragte ich und flocht die Finger in seine.
»Oh, Paulson war ein Urgestein. Einer meiner Sergeants, als ich gerade mit dem Patent eines Second Lieutenant anfing. Er hat mir das ein oder andere beigebracht, zum Beispiel, wie man sich rechtzeitig duckt.« Sein Ton wurde gedankenverloren. Eine Weile saß ich da, wartete schweigend ab, bis er sich gesammelt hatte, und spürte seinen warmen Atem im Haar. »Und deshalb, mein Liebling«, fuhr er fort, nachdem er sich wieder gefasst hatte, »traue ich Geoff Warwick ohne jegliche Vorbehalte.«
Ich drückte beschwichtigend seine Hand. »Gut, dann streichen wir Geoff von der Liste der Verdächtigen. Und was tun wir jetzt?«
»Ich«, erwiderte er mit einer leichten Betonung auf dem Wort, »werde jetzt ein langes Gespräch mit Geoff führen, sämtliche Transaktionen durchgehen und den Kreis eingrenzen. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.«
Ich seufzte schicksalsergeben. »Das heißt
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