Das Meer in deinem Namen
Leitung mächtig knisterte. Der Empfang war schlecht. Sie lehnte sich aus dem Fenster in den Morgen.
„Wie geht es dir?“
„Keine Ahnung. Hier ist alles so ... anders. Lebendig und still zugleich. Aber im Haus scheint auf den ersten Blick alles in Ordnung zu sein. Keine Pfützen auf dem Boden und so.“
„Ich bin dir wirklich dankbar, dass du das machst. Wir werden das Geld aus dem Verkauf dringend brauchen. Das Dach der Villa leckt wieder. Wir werden es ganz neu machen müssen. Und die Heizung gibt den Geist auf. Warmes Wasser haben wir nur sporadisch.“
„Sag mal, wie ist Henny Badonin gestorben?“
„Eines natürlichen Todes. An Herzversagen. Zu Hause. Mehr weiß ich auch nicht.“
„Und weißt du etwas über einen gewissen Joram Grafunder? Und eine oder einen Naurulokki? War das ein Hund? Vielleicht ein Schiff?“
„Nein, nie gehört ... wie kommst du darauf?“
„Briefe. Du hast doch gesagt, ich soll die Papiere sortieren.“
„Ja, mach das einfach, wie du denkst. Noch irgendwas Wichtiges?“
„Kannst du dich an viel von damals erinnern? Wo hast du geschlafen? Woran denkst du, wenn du an Henny denkst?“
Thore schwieg, dachte nach.
„Geschlafen, in einem Dachzimmer ... einem weißen Bett, und da war eine Zeichnung von Schwalben. Warum? Und Henny ... klein war sie, zierlich, wie du, mit einem entschlossenen Schritt. Ich hatte Respekt vor ihr. Sie erzählte viel und sehr anschaulich über Sterne, sie waren so hell dort.“
„Hast du daher dein Interesse für Astronomie?“
Erstauntes Schweigen.
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Möglich. Sie hatte ein Fernrohr und ich durfte es benutzen, das war meine erste Begegnung mit einem.“ Thore lachte. „Du scheinst ja da auf erstaunliche Dinge zu stoßen. Du, erzähl es mir, wenn ich zurück bin. Wir müssen jetzt los. Pass auf dich auf!“
„Du auch. Gute Reise!“
Carly legte auf und sah sich um. Ob ein Echo von Thores Kinderträumen hier irgendwo haften geblieben war?
Die gezeichneten Schwalben jedenfalls flogen noch genauso munter über die Wiese wie damals.
Vor dem Fenster breitete sich der ungemähte Rasen in hellem Sonnenlicht. Jenseits des wild überwachsenen Zauns zum westlichen Nachbargrundstück sah sie ein Haus mit moosigen Schindeln, auf dessen Terrasse ein bärtiger Mann hantierte. „Papa!“, rief eine Kinderstimme. Ein blonder Kopf beugte sich aus einem Fenster und rief dem Mann etwas zu; er antwortete, und dann kam das Lachen. Ein kindliches Lachen, das mit einem lustigen „Hicks“ endete. Carly erstarrte. Valeries Lachen! Ein wenig älter, aber dieselbe Melodie darin – und eben dieses markante „Hicks“, das sie nach Vallis Tod nie wieder gehört hatte, obwohl sie bei jedem Kinderlachen noch immer unwillkürlich darauf wartete.
Beglückt und befremdet zugleich schloss sie hastig das Fenster. Sicher würde sie die Nachbarn noch kennenlernen. Jetzt gerade war ihr das alles zu viel.
Sie zog sich an, abgeschnittene Jeans und das erstbeste T-Shirt. Hoffentlich hatte Henny Tee in der Küche. Ohne Tee lohnte das Leben nicht und sie hatte vergessen, welchen einzupacken. Einkaufen stand heute als Erstes auf ihrem Plan.
Einen Wasserkocher fand sie nicht, aber einen wunderbar altmodischen Teekessel von der Sorte, die fordernd pfeift, wenn das Wasser kocht. Carly war begeistert. So einen hatte Tante Alissa gehabt, als Carly ganz klein war ... oder? Die Hand am Herdschalter, hielt sie erschrocken inne. Das Bild vor ihrem inneren Auge, die Hand am Teekessel – das war doch nicht Tante Alissas große Hand! Hatte der Teekessel ihrer Mutter gehört? War es eine Erinnerung von ... davor?
Sie schüttelte den Kopf und schaltete energisch den Herd ein. Zu ihrer Erleichterung funktionierte er. Jetzt war es nicht mal neun Uhr und sie war schon über mehr Fragen gestolpert, als sie an einem Tag begegnen wollte. Wurde der Aufenthalt hier eine Schnitzeljagd nicht nur nach dem Leben von Henny und Joram und dem rätselhaften Naurulokki, sondern auch nach Thore und nach ihr selbst?
Carly öffnete mehrere Schranktüren, entdeckte diverses Geschirr, Putzmittel, Konserven und endlich Tee in einer runden Keramikdose mit einer Libelle darauf. Die Dose beschwerte einen Zettel. Carly wunderte sich schon nicht mehr darüber. Sie stellte sich Henny vor, eine zierliche, weißhaarige Frau, wie sie ihre Post öffnete, hier am Küchentisch stehend, vielleicht beim Teekochen, und wie sie die Briefe las und bestimmte Seiten daraus
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