Das Meer in Gold und Grau
Telefonaten einen Termin, der allen Beteiligten passte. Ruth sagte: »Katia organisiert das!«, und niemand widersprach ihr.
»Wenn du Hilfe brauchst â¦Â«, sagte Frank.
Die Tante nickte: »Die Kleinen sollen es zusammen machen.«
»Bitte«, sagte Elisabeth, »wenn wir Alten nicht mehr gebraucht werden â¦Â«
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Sie reiste am Vorabend des ersten Advent an, stand in Halsung am Bahnhof von Koffern und Taschen umringt, als hätte sie vor, den Winter bei uns zu verbringen, und winkte. Meine schöne Freundin Manu. Unsere ganze Oberschulzeit hindurch waren wir zusammen unterwegs gewesen. »Die Schöne und
das Biest« hatte uns ein Lehrer getauft, und niemand zweifelte auch nur eine Sekunde daran, wer das Biest war. Manu musste sich einiges anhören, weil sie mit »Katia-dem-Kauz« herumhing, der »komischen Tusse«, die sich die Klamotten absichtlich zerriss, während des Unterrichts ihre Unterarme mit Kugelschreiberzeichnungen vollkritzelte, eine Sicherheitsnadel im Ohr trug, jeden zweiten Tag zu spät kam und ständig wegen irgendwelcher Vergehen zur Direktorin musste. Aber Manu war es vollkommen egal, was die anderen von mir dachten, sie war der Meinung, dass wir Freundinnen sein sollten, und hielt sich eisern daran. Bereits nach wenigen Tagen auf der neuen Schule hatte sie sich vor einem Siebtklässler aufgebaut, der damit beschäftigt gewesen war, mich »Dreckschlampe« zu nennen, hatte ihm ohne Vorwarnung eine gescheuert und mich, sich bei mir einhängend, fortgezogen. »Ich mag dich«, war ihre Antwort auf meine Frage, was sie denn von mir wolle. Und wenn Manu einen mochte, blieb einem keine Wahl, man ging mit. Vermutlich verdanke ich Manus unerschütterliche Zuneigung der Tatsache, dass ich sie nicht angehimmelt habe und dass mir ihr umwerfendes Aussehen sonst wo vorbei ging, nicht einmal aufgefallen war, bevor andere mir von ihr vorschwärmten. Ich war die Einzige, die nichts von ihr wollte. Umgekehrt kam das aber vielleicht auch hin. Sie hatte zwar beschlossen, dass ich ihre Freundin sei, aber ich brauchte dafür auch nichts weiter zu tun, als vorhanden zu sein, musste nichts an mir ändern oder anderweitige Verpflichtungen übernehmen. Sie holte mich gelegentlich raus aus dem, was sie »Kokon« nannte, aber wenn ich drin bleiben wollte, machte ihr das auch nichts aus, sie ignorierte es einfach. »Igel«, nannte sie mich, manchmal »borstiges Stachelschwein«, und sie wusste genau, dass mir das gefiel. Vielleicht war ich für sie auch so
etwas wie ein Abwehrschild gegen aufdringliche Anbeter. Mir war es recht. Ich wäre kaum weitgehend unbehelligt durch die Oberstufe gekommen, hätten nicht sämtliche Jungs, einige der Mädchen und sogar der eine oder andere Lehrer in mir den Schlüssel zur begehrtesten Frau der Schule gesehen. Wer nicht nett zu mir war, wurde von Manu mies behandelt. So einfach war das. Allein durch unser Zusammensein während der Hofpausen waren wir einander perfekte Leibwächter: Sie starrten uns an, aber sie blieben uns fern.
Jetzt stand sie da, auf Gleis eins, in ihrem bodenlangen Wintermantel, ein pelzbesetztes Wolltuch um den Kopf geschlungen, rümpfte ihre wohlgeformte Nase und sagte: »Wohin hast du mich denn diesmal verschleppt?«
»Es wird dir gefallen«, sagte ich, »versprochen!«
Sie küsste mich, während ein verpickelter Basekappenträger am Gleis gegenüber sich den Hals verrenkte. So etwas wie Manu hatten sie in Halsung lange nicht mehr gesehen.
Frank behauptete, dass den Damen, die gewöhnlich um diese Jahreszeit hier landeten, von Weitem anzusehen war, wie zufrieden sie sein würden mit der angefressenen Siebziger-Jahre-Architektur in Form von leer stehenden Ferienwohnungsblöcken, aufgelockert von Fischbrötchenbuden, der geschlossenen Eisdiele, dem Billigkleidermarkt, dem Restaurant Akropolis und dem China-Wok, dem der Doc akut lebensverkürzende Wirkungen bescheinigte. Die einzige weibliche Attraktion auÃerhalb der Saison fand sich, Franks Meinung nach, im »Düt und Dat« in Form der vietnamesischen Gattin von Reiner, genannt Schmitte, dem ältesten Bruder vom Obstmann, der neben Postkarten und Zeitungen auch Souvenirs, Groschenromane, Gipsmöwen und selbst gefertigte Muschelmobiles vertrieb. Die übrigen schönen Frauen hatten rechtzeitig gesehen,
dass sie nach Rügen oder Usedom fort kamen, wo mit
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