Das Meer in seinen Augen (German Edition)
daran nicht unschuldig, wenn er das überhaupt so verharmlost denken durfte.
»Vielleicht lässt du dich besser nicht zu sehr auf das ein, was ich dir so sage.« Sie sah ihn mit glasigen Augen an. Dann drehte sie sich um und ging.
Merlins Brust zog sich zusammen. Am liebsten wollte er sie jetzt in den Arm nehmen. Aber das würde den bisherigen Betrug noch mal in den Schatten stellen, wenn er jetzt so tat, als hätte er absolut keine Ahnung und als würde er die Situation bedauern. Natürlich tat es ihm leid, dass seine Mutter offenbar keine Erfüllung mehr in ihrer Beziehung zu Paolo finden konnte, aber da er daran eine nicht unwesentliche Mitschuld trug, war es einfach unmöglich, ihr gegenüber jetzt den Tröster zu spielen. Er dachte an die zahlreichen Talkshows, die tagtäglich von solchen Fällen handelten: Ein Typ betrog seine Freundin mit deren besten Freundin, die dieser die ganze Zeit über sagte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte. Bei ihm wäre es das Gleiche, nur dass hier eben umständlicherweise Familienbande mit im Spiel waren. Merlin dachte an die Konstellation, die ebenfalls häufig über die Mattscheibe flimmerte: Frau spannt den Mann ihrer Schwester aus. Na, das passte doch schon eher.
Er stand auf, um sich die Klamotten auszuziehen. Dann legte er sich wieder hin und machte die Augen zu. Vielleicht half es ja, wenn er noch ein Weilchen schlief. Aber er bezweifelte, dass sich davon seine Probleme lösten. Von unten hörte er das Klappern von Geschirr. Seine Mutter machte Frühstück.
Plötzlich ging die Zimmertür wieder auf. Irritiert hob Merlin den Kopf. Seine Mutter war doch in der Küche ... Vor ihm stand Paolo, der gerade leise die Tür wieder schloss.
»Guten Morgen«, sagte er.
»Morgen«, antwortete Merlin und wusste noch nicht, was er davon halten sollte, dass Paolo zu ihm rüber kam. Sein Blick jedenfalls verhieß nichts Gutes.
»Wie war dein Abend?« Paolo funkelte ihn an.
Merlin schwieg. Er hatte keine Lust, Paolo irgendwas über David zu sagen. David hatte absolut nichts damit zu tun.
»Oder soll ich da besser deine Mutter fragen?«, fragte Paolo mit zischender Stimme.
»Die wird dir da auch nicht groß weiterhelfen können«, gab Merlin trotzig zurück.
»Hast du mit ihm geschlafen?«
»Vielleicht solltest du dich aber doch besser mit ihr absprechen, nicht dass ihr am Ende beide die gleichen Fragen stellt.«
»Wenn ich mit deiner Mutter spreche, habe ich andere Dinge zu klären.« Paolo lächelte übertrieben nett.
Merlin wusste nicht, was er dazu noch sagen sollte. Im Grunde ließ Paolo ihm keine Wahl, als seiner Mutter möglichst bald die Wahrheit zu erzählen. Augenblicklich setzte ein flaues Gefühl in seiner Magengegend ein. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er einfach weglaufen könnte. Warum sollte er warten, bis alles außer Kontrolle geriet und Paolo seine Beziehung zu seiner Mutter zerstörte? Genauso gut konnte er selbst den Schlussstrich ziehen und sich vom Spielfeld verabschieden. Kurz dachte er an David. Es tat ihm weh, aber letztlich würde er auch diesem Konflikt ausweichen. Er war einfach nicht der Typ, der sich einem endlosen Versteckspiel hingeben konnte. Für David machte es vielleicht noch Sinn, seine Gefühle vor seinen Eltern zu verstecken, aber Merlin war darüber hinaus. Obwohl, wenn er recht überlegte, machte er doch nichts anderes bei seiner Mutter: Er versteckte seine Gefühle ihr gegenüber, indem er sich einfach nicht traute, ihr seine Affäre mit Paolo zu gestehen und stattdessen seine Furcht und die Abscheu vor sich selbst vor ihr verheimlichte.
»Bekomme ich jetzt eine Antwort auf meine Frage?« Paolos Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber Merlin fühlte sich, als hätte man ihm ins Ohr geschrien.
»Nein«, sagte er.
Paolo stand unbewegt da und durchstach ihn mit seinen Blicken.
»Nein, also, ich habe nicht mit ihm geschlafen«, erklärte Merlin schnell. »Zufrieden?«
»Aber du hättest?«
»Ja«, gab er zu. »Paolo«, fügte er nach einer Weile an, »ich bin verliebt!«
»Ich etwa nicht?«, fragte Paolo. Zum ersten Mal war die Eifersucht tatsächlich zu hören. Der verletzte Stolz tauchte aus den Tiefen auf und gab sich zu erkennen.
»Nein«, sagte Merlin. »Wenn du in mich verliebt wärst, würden wir nicht das machen, was wir machen.« Er atmete tief durch. »Wir haben miteinander Sex«, flüsterte Merlin, »das ist alles.«
»Wer sagt das?«
»Ich«, antwortete Merlin. »Wir schlafen nicht mal im
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