Das Meer in seinen Augen (German Edition)
fast erleichtert.
Sein Vater schien von alledem nichts mehr mitzubekommen. Er war in seine Zeitung geflüchtet.
»Gut«, wiederholte seine Mutter. »Gut.«
Plötzlich sah sein Vater doch wieder auf. »Das - ist sicher nur so eine Phase«, sagte er langsam. »Bisweilen kommt das vor, wenn man sich noch nicht so sicher ist.«
David hörte die Hoffnung in seiner Stimme. Augenblicklich wurde ihm wieder übel. Das war noch schlimmer als der Vorwurf seiner Mutter. Zu wissen, dass man die Hoffnungen seines Vaters zerstören musste, der sich verzweifelt an einen Grashalm klammerte. David ertappte sich dabei, wie er die Worte seines Vaters ernsthaft in Betracht zog. Vielleicht war ja doch etwas Wahres dran? Vielleicht machte er aber auch die Hoffnung seines Vaters zu seiner eigenen. Er wollte ihn nicht enttäuschen.
»Wir möchten, dass du dich ab jetzt von diesem Jungen fernhältst«, sagte seine Mutter schließlich und verlieh ihrer Forderung Nachdruck, indem sie die flache Hand auf den Tisch schlug. Sein Vater senkte den Kopf wieder und fand eine vermeintlich wichtige Stelle, die er dringend studieren musste.
»Nein«, sagte David sofort und fühlte sich wieder so, als würde er gar nicht in seinem Körper stecken, sondern diese Szene als Außenstehender betrachten. Ein wattiges Gefühl umgab seinen Kopf.
»Bitte?«, fragte seine Mutter ungläubig.
Der gefürchtete Zeitpunkt war gekommen. Er dachte an Selmas Worte. Immer wieder den eigenen Standpunkt ruhig und sachlich klarmachen.
»Ich bin verliebt«, presste er heraus. »Ich bin in - Merlin - also, ich bin in ihn - verliebt.« Jetzt war es raus.
»Das glaube ich nicht!« Seine Mutter schrie fast. Ihre Worte hallten in seinem Kopf hin und her, doppelten sich und schwollen zu einem einzigen Getöse an.
»Mam«, sagte er mit einem Zittern. »Ich kann mir das nicht aussuchen. Ich ...«
»Doch!«, fuhr sie ihm dazwischen. »Du kannst dich gefälligst zusammenreißen.« Sie lachte schrill auf. »Was soll das denn werden? Zwei Jungen!«
»Eigentlich ist das - normal - heutzutage.« David fühlte, dass diese Worte nicht authentisch waren, aber er wusste nicht mehr, was er sonst sagen sollte. Verzweifelt stellte er fest, dass all die tollen Argumente, die er sich zurechtgelegt hatte, nicht mehr aufzufinden waren.
»Was ist normal? Dass alle homosexuell werden?«
»Nein«, sagte er matt. »Aber ...«
»Wer hat dir so einen Schwachsinn erzählt?«, rief sie. »Das war doch diese Frau, nicht wahr? Sie hat mir auch so einen Mist gesagt, David, aber das heißt noch lange nicht, dass man darauf hören muss! Schalte deinen Kopf ein! Es kann nicht normal sein, wenn zwei Jungen miteinander ...«
»Es fühlt sich aber richtig an!«, schrie David plötzlich und sprang auf. Er keuchte, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich. Seine Mutter sah ihn entsetzt an und auch sein Vater war wieder aus seiner Zeitung aufgetaucht.
»Ich - ich bin kein anderer, nur weil ich ...« David brach ab. Tränen stiegen ihm in die Augen und er kam nicht weiter.
Unvermittelt fing seine Mutter ebenfalls an zu weinen. »Was wird denn aus meinen Enkelkindern?« Sie schluchzte.
»Ich schlage vor, dass wir das Gespräch an dieser Stelle beenden«, sagte sein Vater sachlich und faltete demonstrativ die Zeitung zusammen. »Ich sehe wenig Sinn, jetzt über Enkel zu lamentieren. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass es nur eine Phase ist.« Er sah David offen an. »Es ist besser, wenn wir darüber später noch mal reden, wenn du dir sicher bist, was du willst.«
David holte ruckartig Luft. Am liebsten hätte er geschrien, dass er sich schon jetzt absolut sicher war, dass er Merlin liebte und mit ihm eher ausreißen würde, als sich von ihm trennen zu lassen. Aber dazu war er zu aufgewühlt. Also nickte er nur vorsichtig.
Sein Vater senkte wieder den Blick. »Ich finde das nicht gut, David. Das muss ich sagen. Ich würde es lieber sehen, wenn du ein hübsches Mädchen nach Hause bringst.« Er machte eine lange Pause. Dann sagte er endlich: »Aber du bist und bleibst mein Sohn - egal wie.«
David konnte nicht mehr stehen. Blind schob er sich aus dem Wohnzimmer und krabbelte auf allen Vieren die Treppe hinauf. In seinem Zimmer warf er sich aufs Bett und ließ seinen Tränen freien Lauf. Zum Großteil waren es Tränen der Erleichterung. Er hatte es geschafft. Und er hatte sich tapfer geschlagen.
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»Und?«, fragte Paolo.
Merlin stand im Türrahmen zum Wohnzimmer und fröstelte. Die
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