Das Meer in seinen Augen (German Edition)
sie die Augen. Es war mitten in der Woche. Aber eindeutig, es war Paolos Stimme, die sie da aus dem Badezimmer hörte. Angestrengt versuchte sie zu verstehen, was er sagte, konnte die Laute aber nicht zu Worten zusammensetzen. Dann hörte sie auch Merlin etwas sagen. Sie schaute irritiert auf die Uhr. Warum war Paolo überhaupt noch hier? Plötzlich spürte Selma eine unbestimmte Unruhe in sich. Irgendwas stimmte nicht. Sie setzte sich unsicher auf. Als sie aber Paolos Schritte hörte, legte sie sich schnell wieder hin und tat so, als würde sie noch schlafen. Paolo blieb im Türrahmen stehen. Sie konnte geradezu fühlen, wie er sie beobachtete. Dann kam er endlich herein und stieg wieder ins Bett. Selma reckte sich.
»Du bist noch da?«, fragte sie verschlafen. »Wie spät ist es?« Innerlich hoffte sie, dass er den Betrug nicht bemerken würde. Sie fühlte sich hellwach. Ihr ganzer Körper stand unter Hochspannung, weil sie fühlte, dass sich etwas anbahnte. Und es konnte nichts mit ihren Plänen zu tun haben. Davon hatte sie ihm noch nichts erzählt. Ja, sie war sich nicht mal sicher, ob sie das tatsächlich heute in Angriff nehmen wollte. Unglaublicherweise fürchtete sie sich vor seiner Reaktion. Das war ihr gestern Abend klar geworden, als sie allein im Bett gelegen hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Angst, einem Mann den Laufpass zu geben. Aber woher kam das? Mit dieser unangenehmen Frage war sie gestern letztlich doch noch eingeschlafen. Wie konnte es sein, dass sie sich, so stark wie sie war, plötzlich fürchtete? Sie sah Paolo in die Augen. Nein, sie hatte nicht wirklich Angst vor ihm, oder? Es musste vielmehr die ungewisse Zukunft sein, die ihr wieder mal bevorstand. Vielleicht wurde sie zu alt für diese Art von Leben? Dann fiel ihr auf, dass Paolo noch nicht geantwortet hatte.
»Paolo?«, sagte sie, um ihn daran zu erinnern, dass er ihr immer noch eine Antwort schuldig war.
»Ich habe heute einen freien Tag. Extra für dich.«
Selma runzelte die Stirn. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Es sollte eine Überraschung sein.«
Selma empfand diesen leichthin gesprochenen Satz als billige Ausrede. Ob er etwas ahnte? Natürlich würde ihm nicht entgangen sein, dass sich in ihrer Beziehung so einiges geändert hatte und dass sie unzufrieden damit war, hatte sie auch schon mehr als nur ein mal zum Ausdruck gebracht. Also konnte es durchaus sein, dass er ihr einfach eine Freude machen wollte. Nur, warum kam das bei ihr absolut nicht so an? Hatte sie sich innerlich schon damit abgefunden, dass es für sie beide keine Möglichkeit mehr geben würde? Selma war verwirrt. Sie wusste nicht, wie sie ihre Gefühle sortiert bekommen sollte. Eigentlich wollte sie nichts lieber, als dem Drang nachgeben, endlich wieder auf eigenen Füßen zu stehen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dagegen sprach aber die Furcht, die sie völlig unvorbereitet zum Bleiben überreden wollte. Das wusste sie gar nicht einzuordnen.
»Worüber denkst du nach?«, fragte er leise.
»Nichts«, sagte sie.
»Ach so.«
Selma fühlte sich ein wenig unfair, dass sie nicht einfach die Wahrheit sagte. Jetzt wäre ein günstiger Moment, die Probleme zwischen ihnen anzusprechen. Doch sie wollte ihm nicht damit gegenübertreten, solange sie noch selbst so hin- und hergerissen war. Ein böser Gedanke sagte ihr, dass sie lediglich warten wollte, bis es kein Zurück mehr gab. In der Tat hatte sie das Gefühl, dass sie momentan noch viel zu wackelig dastand. Wenn sie Paolo jetzt die Gelegenheit gab, Einwände zu erheben, könnte sie sich vielleicht nicht so recht auf ihren Standpunkt versteifen. Und damit wusste sie es: Sie wollte und sie würde Paolo verlassen! Es brauchte nur noch ein wenig Zeit, bis sie es ihm sagen konnte, das war alles. Aber genau das verstörte sie schon wieder. Immerhin war sie eine Frau des direkten Weges. Warum sollte sie noch warten, wenn sie doch die Entscheidung längst gefällt hatte? Sie dachte mit Unbehagen über Paolos Einfluss auf sie nach. Anfangs war er in dieser Beziehung ein absoluter Schwächling gewesen - Macho zwar, aber auf Geistesebene hatte er ihr nicht im Entferntesten das Wasser reichen können. Nun aber hatte sie Respekt vor ihm. Eine seltsame Wandlung, die ihr erst jetzt bewusst wurde, da sie ihn verlassen wollte. Ja, sie glaubte tatsächlich, dass sie ihm in einem Gefühlsgefecht unterliegen könnte! Noch nie hatte es jemand geschafft, sie auf diese Weise abhängig zu
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