Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Sachen zu packen und zum Sport zu gehen - zumindest offiziell. Für sich selbst war zu diesem Zeitpunkt natürlich längst klar, dass sie nicht ins Fitnesscenter gehen würde. Sie wäre auch kaum in der Lage unter diesen Vorraussetzungen ruhig auf dem Crosstrainer ihre Zeit abzustrampeln. Nein, sie wollte es wissen. Als David ihr heute Mittag das Geheimnis anvertraut hatte, war sie regelrecht in eine Art Narkose gefallen. Einerseits hatte sie das Gefühl, es eigentlich schon längst wissen zu müssen, andererseits fingen die üblichen Mechanismen sofort mit der Verleugnung an. Auch jetzt war sie sich noch nicht wirklich sicher, ob sie David glauben sollte. Es handelte sich schließlich auch um eine Geschichte, die man als Mutter nicht so einfach glauben konnte. Was Paolo betraf, da würde sie niemals eine Garantie für geben. Er war ein Mann, und von Männern konnte sie mittlerweile nichts mehr anderes erwarten als herbe Enttäuschungen. Nach dem Gespräch und ihrem frisch erworbenem Feilchen erst recht nicht. Paolo war ein Schwein. Aber was war mit Merlin? Konnte sie sich vorstellen, dass ihr eigener Sohn sie betrog? Nein, das ging beim besten Willen nicht. Sie hatten eine freundschaftliche Beziehung. Sie würde es doch merken, wenn er ihr etwas verheimlichte, oder etwa nicht? Der Gedanke, dass Merlin ihr sowas antun konnte, warf sie förmlich um.
Unversehens waren ihre Schritte immer länger geworden. Sie rannte geradezu die Straße wieder hinunter. Es war vielleicht eine Viertelstunde her, da sie das Haus verlassen hatte. Aus Paolos Andeutungen konnte sie schließen, dass er die erste sich bietende Gelegenheit zu nutzen gedachte. Sie hatte dem Platz gemacht. Jetzt galt es für sie, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Selma kam sich fast ein wenig albern vor. Als wenn Paolo und Merlin gleich nach ihrem Verschwinden übereinander herfallen würden. Das war doch absurd. Aber war es nicht genau das, was ihr David heute Mittag gesagt hatte? Wollte sie nicht genau das überprüfen?
Selma bremste ihren Schritt. Wollte sie das wirklich? Wenn sie jetzt in dieses Haus ging und nichts vorfand, als das, was sie zurückgelassen hatte, musste sie sich eingestehen, dass sie langsam paranoid wurde. Und David war ein Lügner. Doch ihre Menschenkenntnis glaubte nicht an einen David, der Lügen verbreitete, auch wenn man den Leuten immer nur vor den Kopf schauen konnte. Trotzdem glaubte sie genausowenig an einen Merlin, der es mit ihrem Freund trieb, während sie mal kurz zum Sport ging. Sowas existierte in diesen ätzenden Talkshows, die den ganzen Vormittag über die Flimmerkisten liefen und armen Menschen die Möglichkeit zur Darstellung ihrer noch ärmeren Probleme gaben. Nein, das hier war keine Freakshow.
Sie blieb stehen und sah zu Merlins Fenster hinauf. Sicher saß er an seinem Computer oder er schrieb wieder oder was auch immer. Selma drehte sich kurz um und schaute zum Haus der Gessens hinüber. Oben huschte jemand vom Fenster weg. Sie erriet, dass David die ganze Szene beobachtete. Plötzlich überfiel sie Unsucherheit. Schätzte sie diesen Jungen tatsächlich richtig ein? Woher wollte er von der Affäre zwischen Merlin und Paolo wissen? Die Antwort darauf war einfach: Er schaute aus seinem Fenster, wie er es bis gerade eben noch gemacht hatte. Er beobachtete. Aber warum hatte er es ihr gesagt und nicht Merlin? Immerhin waren die beiden doch ein Paar. Der Verdacht, dass sich David vielleicht nur rächen wollte, stieg in ihr auf. Irgendwas stimmte hier nicht, dachte sie. Dann drehte sie sich wieder um und ging zur Haustüre. Sie lauschte, konnte aber nichts hören. Durch das raue Sichtfenster in der Tür schimmerte auch kein flackerndes Fernseherlicht, das sie normalerweise sah, wenn sie nach Hause kam und Paolo wieder mal vor der Kiste hing. Sie atmete tief durch. Bis jetzt hatte sie nicht mehr als eine Behauptung und ihre wirren Gedanken und Vermutungen dazu. Wenn sie es wissen wollte, musste sie sich schon hineinwagen. Aber was dann? Wie sollte sie reagieren? Stets hielt sie Ruhe für die beste Methode, unvorhergesehenen Problemen zu begegnen. Doch sie spürte in ihrer Brust bereits den Druck, der ihre Anspannung explodieren lassen würde, wenn sie tatsächlich das erleben würde, was man ihr vorhergesagt hatte. Nein, sie hätte ganz sicher nicht die Kraft, dem besonnen gegenüberzutreten. Aber das musste sie auch nicht. Sie war immerhin auch nur ein Mensch.
Vorsichtig schob sie ihren Schlüssel ins Schloss. Ihre Hand
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