Das Meer in seinen Augen (German Edition)
schien es so, als hätte er das lediglich geträumt, so surreal kam ihm die Vorstellung vor.
Der Aufzug setzte sich in Bewegung. Gleich würde er Paolo wiedersehen. Und plötzlich wusste er gar nicht mehr, ob er überhaupt stark genug war, diesem Mann noch mal in die Augen zu schauen. Sicher, er hatte den ersten Schritt gemacht, aber David war derjenige, der sich letztlich hatte küssen lassen. Konnte er jetzt einfach so tun, als wäre nichts geschehen? Wie sollte er reagieren, wenn Paolo ihn darauf ansprach?
Die Türen öffneten sich und vor ihm breitete sich der Flur der Elco GmbH aus. David holte tief Luft und entschied sich, dass er sich durch solche Gedanken nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen durfte. Wie realistisch war es, dass Paolo ihn ausgerechnet darauf ansprach? Wahrscheinlich war es ihm ja selbst unangenehm. Zumindest sollte man das meinen.
David betrat die Geschäftsräume. Niemand hielt ihn auf, niemand fragte, was er denn hier suchte. Alles war beschäftigt. Einen Moment überlegte er, ob er bei seinem Vater vorbeischauen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er wollte Merlins Nummer in Erfahrung bringen, er durfte keine Zeit verschwenden. Trotzdem ging er alles andere als zielstrebig in den Trakt, in dem sich die Büros der Geschäftsführung befanden. Erleichtert stellte David fest, dass sein Vater gar nicht anwesend war. Sicherlich hatte er eines dieser Meetings, von denen er vor ein paar Tagen beiläufig erzählt hatte. Irgendwas zur Einarbeitung in den Betrieb.
Die Tür zu Paolos Büro war geschlossen. David dachte daran, was Paolo ihm über das Eintreten in sein Büro gesagt hatte. Ohne Voranmeldung lief nichts. Vielleicht saß er ja gerade mit seinem Vater in einer Besprechung. David überlegte, ob er sich einfach auf einen der Sessel setzen sollte, die hier in allen Ecken zu finden waren. Er könnte sich eine Zeitschrift nehmen und warten, bis Paolo für ihn Zeit hatte. Aber dann war es womöglich schon zu spät. David runzelte die Strin. Zu spät wofür? Merlin war doch eh schon längst weg. Als er aber einen Moment darüber nachdachte, bemerkte er, dass er irgendwie glaubte, Merlin würde doch noch nicht auf dem Weg nach Berlin sein. Irgendwas sagte ihm, dass es noch Hoffnung gab. Aber wie würden seine Chancen stehen, dass er ihn davon überzeugen konnte, hier zu bleiben? Und wollte er das überhaupt? Selbst wenn Merlin nicht mit seiner Mutter gehen würde, so konnte er doch wohl unmöglich weiter bei Paolo wohnen bleiben. Der Gedanke machte David ganz krank. Nein, er wollte nur nachfragen, wie es Merlin ging und ... Er wusste auch nicht. Aber er wollte mit ihm telefonieren, er musste.
David gab sich einen Ruck und ging auf die Tür zu. Ohne zu Überlegen streckte er die Hand aus und drückte die Klinke hinunter. Für einen Augenblick war er sich sicher, dass abgeschlossen sein würde. Doch die Tür schwang auf. Paolo sah ihm geradewegs in die Augen.
»Ah ...«, machte David kraftlos. Paolos Blick wirkte wie ein betäubender Schlag. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis er aus seiner Starre wieder freikam.
»Ich, äh ...« Er konnte nicht weitersprechen. Irgendwie fühlte sich sein Kopf absolut leer an. Und Paolos Augen stachen immer noch auf ihn ein, ließen ihn keine Sekunde außer Acht. Eine aufmerksame Stimme in David bemerkte, dass Paolo ihm schon in die Augen geschaut hatte, noch bevor er wissen konnte, wer gleich das Zimmer betreten würde. Doch David registrierte diesen Einfwurf nicht. Das waren die üblichen albernen Gedanken.
»Besuch!«, sagte Paolo und lächelte mit unnatürlich weit auseinandergezogenen Mundwinkeln. »Wie schön.«
»Ich - ich ...« David dachte daran, sich für sein plötzliches Eindringen zu entschuldigen, aber die Worte wollten nicht über seine Lippen.
»Schon okay«, sagte Paolo und erhob sich aus seinem Sessel. David bemerkte, dass der Schreibtisch leer war. Nicht ein einziges Blatt befand sich darauf. Der Laptop, der neben der Kaffeetasse stand, war zugeklappt. Das alles sah kein bisschen nach Arbeit aus, dachte David irritiert. Saß man in einer solchen Position einfach nur an seinem Schreibtisch und wartete darauf, dass endlich jemand den Mut hatte, durch die Tür zu stürmen?
»Ich hab schon auf dich gewartet.« Paolo lächelte während er an ihm vorbeiging. Mit einem schwungvollen Stoß warf er die Tür zu. David blieb starr stehen. Was hatte das zu bedeuten? Wie konnte Paolo auf ihn gewartet haben? Sie hatten doch nichts
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