Das Meer in seinen Augen (German Edition)
hatte!
»Ist dein Sohn bei einer Freundin?«, fragte Hans und erinnerte Selma an das Gespräch. Seine Stimme zumindest klang nun ein wenig versöhnlicher. Er gab sich Mühe, das merkte sie. Dennoch würde sie sich keine Hoffnungen machen. Ihr Vater war und blieb ein Mistkerl.
»Mein Sohn ist zufällig dein Enkel und heißt Merlin«, sagte sie schließlich, während sie sein Profil betrachtete. Er war alt geworden. Seine Wangen hatten seit dem letzten Mal, da sie sich gesehen hatten, deutlich an Fülle verloren und hingen nun schlaff herunter. Das Haar war fast komplett ergraut. Aber er sah dennoch gut aus, sehr gepflegt und - darauf legte er wahrscheinlich den größten Wert - reich.
»Du weißt, dass ich mir solche Namen nicht merken kann.« Er setzte zu einem Überholmanöver an.
»Merlin hat keine Freundin«, sagte Selma. Am liebsten hätte sie ihm auch gesagt, dass ihr Sohn sich überhaupt nichts aus Frauen machte und sie das für absolut in Ordnung hielt. Aber damit hätte sie Merlin in seiner Freiheit beschnitten und wahrscheinlich einen Unfall bei Tempo hundertfünfzig provoziert.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Hans und klang wieder verärgert. »Du weißt doch, wie teuer der Kraftstoff wieder geworden ist ...«
»Du kannst es dir leisten«, erinnerte Selma ihren Vater an sein prall gefülltes Bankkonto.
»Bleibt nur die Frage, ob ich es mir wirklich leisten will.«
Selma seufzte. »Es tut dir nicht weh und dir bricht auch kein Zacken aus der Krone.« Sie musste unwillkürlich grinsen. »Außerdem wird es mal Zeit, dass du Merlin kennenlernst. Dann kannst du dir auch seinen Namen merken.«
Selma war davon überzeugt, dass sich ihr Vater gut mit Merlin verstehen würde. Und genau das war es wahrscheinlich, was ihm am meisten Angst machte. Er versteckte sich viel lieber hinter seinem Schutzschild aus Gemecker. Aber wenn er erst mal eine Weile mit Merlin unter einem Dach wohnte, dann würde er schon irgendwann auftauen. Vielleicht konnte ihm Merlin noch eine ganz andere Sicht auf das Leben geben. Sie selbst hatte es damals aufgegeben, aber Merlin war noch unbelastet und würde in ihrem Vater sicher einen besseren Menschen sehen. Dann dachte Selma bitter daran, dass die beiden immerhin eine Gemeinsamkeit hatten: Sie gingen fremd.
»Und was macht dein Sohn gerade?«, fragte Hans. Es schien ihm keine Ruhe zu lassen, dass er den ganzen Weg noch mal für etwas zurücklegen musste, dass seiner Meinung nach nicht wichtig genug war.
»Er muss sich noch von der Schule abmelden.« Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht. Sie griff sofort wieder nach ihrer Tasche, um Merlin noch mal anzurufen und ihn darauf aufmerksam zu machen. Im letzten Moment fiel ihr aber ein, dass das wahrscheinlich ein wenig befremdlich auf ihren Vater wirken könnte. Also ließ sie es und machte sich eine Notiz auf ihren imaginären Merkzettel.
»Der arme Junge«, murmelte Hans vor sich hin.
»Bitte?« Selma versuchte ihr Stimme nicht zu spitz klingen zu lassen.
»Ich sagte: Der arme Junge!«
Selma schluckte. Sie wusste, dass sie jetzt nur wieder einen Streit provozieren würde, wenn sie sich auf diese Anmerkung einließ.
»Er ist einverstanden«, sagte sie schließlich betont ruhig.
»Weil er es nicht anders kennt.« Hans setzte eine verächtliche Miene auf.
Selma schwieg, die Zähne fest aufeinandergebissen.
»Im Grunde kenne ich ihn doch schon, oder nicht?«, lachte Hans plötzlich. »Dunkler Typ, weil du schon immer eine Vorliebe für Ausländer hattest, intelligent, aber vollgepumpt mit ätzenden Weisheiten und Naturesoterik, verweichlicht und hoffnungslos emotional, unfähig, seine Probleme zu bewältigen, anstatt vor ihnen davonzulaufen und am Ende womöglich noch schwul.«
Selma lachte kurz auf, dann sah sie starr aus dem Fenster und betrachtete die anderen Autos. Sie hatte es gewusst, ihr Vater war immer noch das selbe Arschloch wie früher. Nur dass sie mittlerweile erkannte, dass er gar nicht mal so falsch lag mit seinen Angriffen. Es konnte nicht überraschen, dass er den Grund für ihre Flucht erahnte. Sie hatte schon immer Probleme mit Männern gehabt und war seit jeher vor ihnen davongelaufen. Die traurige Statistik ließ sich bis zu ihrem Vater zurückverfolgen.
»Und habe ich recht?«, fragte Hans und grinste.
»Merlin kann nichts dafür«, sagte Selma. »Du kennst ihn nicht.«
»Natürlich kann er nichts dafür, du bist schließlich seine Mutter. Er hat es nicht anders gelernt. Wie lange willst du
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