Das Meer in seinen Augen (German Edition)
inne. Alles war noch so, als würde Merlin noch hier wohnen. Das Bett war zerwühlt, es lag noch Schreibmaterial auf dem Tisch, der Computer stand auch noch da. Aber es schien, als hätte jemand hier aufgeräumt. David konnte sich nicht vorstellen, dass Merlin sein Zimmer einfach so hinterließ, wenn er vorhatte, nie wieder zurückzukommen.
Aber zumindest sah es so aus, als hätte er einen kleinen Hinweis, wo er zuerst suchen konnte. David ging durch den Raum auf den Schreibtisch zu. Mehrere Notizbücher und Hefte lagen darauf verteilt. Sicherlich Terminkalender oder ähnlich Spannendes. David nahm eines der Bücher und schlug es auf. Gedichte. Ja, Merlin hatte irgendwann mal erwähnt, dass er gern schrieb. Aber bevor er eines auch nur ansatzweise lesen konnte, schob sich eine Hand in sein Blickfeld und zog ihn nach hinten. Sein Aufschrei wurde erstickt. Das Nächste, was David sah, war das Laken auf Merlins Bett. Auf sich spürte er ein Gewicht und braune Arme, die ihn umschlangen. Er versuchte sich zu wehren, womit er die Arme nur provozierte, ihn fester zu halten.
»Pscht«, machte Paolo in sein Ohr. »Wehr dich nicht.«
David ließ wie auf Komando den Kopf auf die weiche Matratze fallen.
»Lass mich!«, sagte er, obwohl er wusste, dass es vollkommen nutzlos war.
»Du willst es, ich weiß es.« Paolos Stimme klang heiser. David spürte etwas Hartes durch die Jeans an sein Hinterteil drücken. Nein, er wollte nicht. Er durfte es nicht wollen.
»Ich weiß es«, flüsterte Paolo. »Und es wäre ein guter Weg, es Merlin heimzuzahlen.«
Nein! David versuchte sich zu befreien. Aber je mehr er versuchte gegen Paolo anzugehen, desto weniger ernsthaft wurden seine Versuche. Schließlich ertappte er sich dabei, dass ihm das Spiel sogar gefiel.
»Paolo«, sagte er. »Bitte lass mich los.«
Er spürte den Atem auf seinem Hals. Fühlte, wie die Lippen seinen Nacken liebkosten. Dann gab Paolo seine Hände frei. Fast war David enttäuscht. Aber das Gefühl der Erleichterung überschattete ein aufkeimendes Verlangen. Er war froh wieder sein eigener Herr zu sein und drehte sich zur Seite.
»Ich weiß nicht was mit euch Jungs los ist«, sagte Paolo unerwartet kameradschaftlich. »Auf der einen Seite wollt ihr gern einen Freund haben, der euch richtig zeigt wo es lang geht, der weiß, was euch gefällt. Aber auf der anderen Seite verliebt ihr euch dann in einen gleichaltrigen Milchbubi.«
David sah Paolo erstaunt an. Niemals hätte er gedacht, dass Paolo auch ganz normal sprechen konnte.
»Küss mich!« Paolo schloss die Augen.
David war völlig perplex. Aber so wie er Paolo dort liegen sah, erinnerte er ihn an einen unschuldigen Jungen, der auf seinen ersten Kuss wartete. Und dann geschah das, was er selbst niemals geglaubt hätte. Er beugte sich vor und küsste Paolo.
115
»Ansgar!« Hanne fasste ihren Mann am Arm. Er sah sie erschrocken an.
»Was?«, blaffte er.
Hanne wusste nicht mehr, was sie sagen wollte. In ihr tobte die Gewissheit, dass sie zu viel Zeit hatten verstreichen lassen, dass alles schon geschehen war und sie zu spät kamen, um Schlimmeres zu verhindern.
»Sie sind immer noch im Haus?«
Hanne nickte, doch Ansgar hatte sich bereits abgewandt und stürmte auf die Haustür zu. Sie eilte ihm hinterher. Ansgar klingelte Sturm, doch die Türglocke ließ sich nicht drängen. Immer erst, wenn ein Glockenspiel durchgespielt war, konnte man erneut klingeln. Es schien Hanne Ewigkeiten zu dauern. Aber sie war nicht in der Lage sich zu regen. Starr stand sie neben ihrem Mann, als gehörte sie überhaupt nicht dazu. Wie eine unbeteiligte Betrachterin nahm sie alles in sich auf. Nur die Unruhe in ihr wuchs von Sekunde zu Sekunde. Erst als Ansgar begann, sich mit seinem vollen Gewicht gegen die Tür zu werfen, erwachte sie aus ihrem katatonischen Zustand.
»Ansgar!«, rief sie wieder und wollte ihn zurückhalten.
»Was?«, brüllte Ansgar und Hanne ließ ihn erschrocken los.
»Das - das - dürfen wir nicht«, stammelte Hanne.
»Der Kerl ist mit unserem Sohn da drin! Und ob wir das dürfen!« Ansgar war vollkommen außer sich. »Ruf die Polizei!«
»Ansgar«, versuchte Hanne ihn zu beschwichtigen. Sie erkannte ihren Mann nun überhaupt nicht mehr wieder. Was war hier eigentlich geschehen? Das alles erinnerte sie eher an einen verrückten Film als an das reale Leben.
»Kann ich vielleicht helfen?«, fragte plötzlich eine Stimme wie aus dem Nichts.
Hanne und Ansgar sahen erschrocken zur Haustür, die nun
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