Das Meer in seinen Augen (German Edition)
später würde sie es ja doch erfahren. Aber nein, Linda musste immer alles sofort wissen.
Nebenbei registrierte er, dass es ruhig geworden war im Haus. Das Wasser im Badezimmer plätscherte nicht mehr. Dann hörte er unten die Eingangstür. Seine Mutter. Sicherlich würde sie gleich noch mal bei ihm vorbeischauen. Er hatte sie schon heute Mittag abgewimmelt. Aber Merlin war auch jetzt nicht nach einer Unterhaltung. Er wollte nur allein sein und schlafen. Nicht mehr nachdenken, sondern einfach die Augen zumachen und erst morgen wieder aufwachen. Ein neuer Tag, ein neues Gefühl, eine neue Gelegenheit.
Vorsichtig öffnete sich die Zimmertür. »Lin?«, fragte seine Mutter. »Schläfst du schon?«
»Ja«, sagte er. Das war ihr Ritual, wenn sie noch etwas von ihm wollte, es aber eigentlich zu spät fand.
»Kann ich noch reinkommen?«
Er schwieg. Aber sie zog sich nicht zurück. Also sagte er: »Ich hab schlechte Laune.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht.«
»Schlaf einfach, morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.«
Er musste über diesen Spruch grinsen. Das sagte sie ihm schon, seit er denken konnte. Und es stimmte, manchmal musste man einfach nur eine Nacht schlafen, damit alles wieder ins Lot kam.
»Ma?«
»Ja?«
Plötzlich wollte er doch nicht, dass sie schon ging. »Deine Idee mit dem Feuer war absolut mies.«
»Ich weiß«, sagte sie und lachte.
»Was?« Merlin setzte sich auf.
»Ich habe euch beobachtet.« Sie kicherte wie ein junges Mädchen. »Schon als ich ihn da sitzen sah, dachte ich mir, dass du niemals fragen würdest. Aber hat ja doch geklappt.«
»Ich find das nicht lustig, Ma!«
»Mensch Lin, sieht doch jeder, dass er nicht der Zigaretten-Typ ist.«
»Woher soll ich das denn wissen? Bin ich etwa Raucher?«
»Zumindest wolltest du es heute Morgen dann doch für einen Moment sein.« Sie klang amüsiert.
»Warum hast du mir das überhaupt vorgeschlagen, wenn du wusstest, dass er überhaupt nicht rauch?«
»Es war ein allgemeiner Tipp, Lin«, versuchte sie sich herauszureden. »Mehr nicht.«
»Aber du wusstest, dass ich ihn bei dem Falschen anwenden würde, oder was?«
»Nun, ich wusste es nicht, aber ich habe gehofft.«
Merlin stöhnte. »Du bist eine Hexe!«
»Ja, ja, ich weiß. Hat es denn wenigstens geklappt?«
»Ich denke, du hast uns beobachtet?«
»Meine Weitsicht hat im Schulgebäude aber ihren Dienst versagt.«
»Ma! Ich hab mich vollkommen blamiert vor dem Jungen!« Merlin konnte es immer noch nicht fassen, dass seine Mutter ihn so guten Gewissens in sein Verderben rennen ließ.
»Lin«, sagte sie wieder ernst. »Du bist manchmal zu unnahbar.«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass du manche Jungen gar nicht kennenlernen wirst, weil sie dich für zu cool halten. Ich weiß, dass das bei den jungen Leuten heute ganz wichtig ist, unverletzbar rüberzukommen. Ihr wollt alle als stahlharte Figuren angesehen werden, eindimensional, wie von einer Plakatwand. Aber so funktioniert das zwischenmenschliche Leben nicht.«
Merlin schwieg. Gern würde er ihr widersprechen und behaupten, dass er gar nicht so war. Aber warum machte er sich dann die Mühe, in der Menge nicht aufzufallen, nicht mädchenhaft zu sein? Warum ging er fast täglich zum Sport? Man kam viel besser mit allen klar, wenn man sich anpasste und ohne Kanten in den Reihen verschwand.
»Lin, du hast dich heute vielleicht kurz blamiert, wenn überhaupt. Aber du hast damit gezeigt, dass du nicht perfekt bist. Das macht einen Menschen sympatisch.«
»Das kann man aber auch herausfinden, wenn man ganz normal miteinander redet.«
»Und du hättest ihn angesprochen?«
Merlin überlegte. Natürlich hätte er ihn nicht angesprochen. Ohne den Schubs seiner Mutter wäre er heute morgen geradewegs an ihm vorbeigegangen. Und in der Schule? Hätte er ihm da noch eine Chance gegeben?
»Er ist auf dich zugegangen, oder?«
»Ja«, sagte Merlin. Seine Mutter hatte ja recht. Ohne diese blöde Aktion säßen sie jetzt in der Schule auch sicher nicht nebeneinander.
»Ist er nett?«
»Ja«, antwortete er wieder.
»Gut«, sagte seine Mutter. »Dann schlaf jetzt und träum schön.« Leise schloss sie die Tür und überließ ihn seinen Gedanken.
Manchmal fand er seine Mutter unheimlich. Sie schien geradezu besessen von dem Gedanken, ihn zu verkuppeln. Aber, und das war das Schlimme, er musste ihr zugestehen, dass sie recht hatte. Er hatte sich heute absolut gegen seine normalen Gepflogenheiten verhalten. Sicher hätte er David
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