Das Meer in seinen Augen (German Edition)
Dann passte er einen Moment ab, in dem Frau Asbach nicht aufschaute und warf das Briefchen zu Linda. Überrascht sah sie ihn an, lächelte aber schließlich. Es fühlte sich sofort viel besser an, wenn einem jemand zulächelte, stellte David fest. Trotzdem schwang auch gleich wieder der Zweifel mit, ob das mit der Nachfrage wirklich eine so gute Idee war. Immerhin könnte sie ja wieder damit anfangen, dass er Merlin nicht so anglotzen sollte. Aber er beschloss solche Anspielungen gleich abzublocken. Er würde es einfach leugnen, fertig.
Es dauerte elende Minuten, bis Linda ihm ihre Antwort zuwarf. Erwartungsvoll faltete David das Papier auseinander. Warum leugnest du es? Warum sagst du es ihm nicht einfach? Davids Magen rumorte plötzlich. Er hatte es doch gewusst! Warum hatte er sie überhaupt erst angesprochen? Die Antwort darauf war wohl mehr als simpel: Er fühlte sich allein. Ohne Merlin an seiner Seite war er in diesem Klassenverband ein Fremder. Und Linda war nun mal die Einzige, die er neben Merlin schon etwas kannte. Er legte den Zettel weg. Einfach nicht drauf antworten. Dann nahm er sich das Briefchen aber doch wieder vor. Was meinst du? Einen Moment überlegte er, ob das nicht zu offensichtlich war. Ihm fiel da diese Standartformulierung ein: ›Ich weiß überhaupt nicht, was du meinst.‹ Da wusste doch jeder sofort, dass es eine Lüge war. Aber ihm fiel nichts Besseres ein, und mit dieser flachen Frage hatte er zumindest zurückgeschossen, auch wenn er nicht glaubte, dass es dabei bleiben würde.
Ein paar Minuten später wusste er es: Dass du schwul bist! Ist doch kein Problem, man. Ich versteh echt nicht, warum ihr Schwuchteln da so einen Akt draus macht.
David fühlte sich, als hätte ihm jemand kräftig auf den Kopf geschlagen. Wie sollte er jetzt darauf reagieren? Er fühlte sich mit einem Mal vollkommen leer. Warum machte er eigentlich so einen Akt daraus? Natürlich weil er nicht wollte, dass es gleich alle wussten. Je mehr Leute dieses Geheimnis mit ihm teilten, desto größer war die Möglichkeit, dass seine Eltern irgendwann davon erfuhren. Dieser Gedanke verweilte eine ganze Zeit lang in seinem Kopf. Seine Eltern. Ja, das war das Problem. Na ja, vielleicht auch seine Klassenkameraden. Woher sollte er wissen, dass sie nicht gleich alle über ihn herfielen und schrien, dass sie es ja schon immer gewusst hatten. Ach, das war Schwachsinn. Sie kannten ihn ja überhaupt nicht. Im Grunde wäre es doch ein einfacher Start, wenn man irgendwo hinkam und die Karten gleich offen auf den Tisch legte, oder nicht? Merlin ließen sie ja auch in Ruhe. Er dachte noch mal über ihr Gespräch nach. Sicher hatte Merlin recht damit, dass man sich einfach so annehmen musste, wie man war. Die anderen würden wenig Spaß daran finden, ihn wegen etwas aufzuziehen, das ihn selbst nicht die Bohne störte. Aber seine Eltern ... Das war das eigentliche Problem!
Bist du schwul? , schrieb David auf den Zettel. Er überlegte eine Weile. Dann fügte er an: Wenn nicht, dann wirst du auch wohl nicht wissen, ob es ein Problem ist, oder? Immer wieder las er seine Zeilen durch und wägte ab, ob er sie wirklich Linda zuwerfen sollte. Es war ja schließlich ein Eingeständnis. Obwohl, er bezweifelte, dass ihr das reichen würde. Sie wollte wohl von ihm, dass er jetzt gleich aufstand und durch die Klasse brüllte, dass er auf Merlin stand.
Es klingelte und David erhob sich, knüllte den Zettel zusammen und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden. Dann bemerkte er, dass lediglich die erste Stunde beendet war und sie noch keine Pause hatten. Schnell ließ er sich wieder auf seinen Stuhl nieder. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Linda ihn beobachtete. Sie hatte natürlich mitbekommen, dass er nicht vorhatte, ihr seine Antwort zukommen zu lassen.
40
Merlin tauchte langsam aus dem Tiefschlaf auf. Mit geschlossenen Augen blieb er liegen und dachte voller Sorgen an den gestrigen Abend. Er hatte schon wieder mitgespielt. Eigentlich, wenn er darüber nachdachte, wollte er erst gar nicht aufwachen. Am liebsten würde er einfach im Bett bleiben und warten, bis dieser elende Tag vorbei war. Vielleicht hatte er ja Glück und wachte morgen mit anderen Gedanken auf. Oder aber, er schlief einfach so lange, bis sich ein erleichternder Schleier des Vergessens über diese unschöne Realität gelegt hatte. Apropos Realität, ihm kam das Ganze irgendwie gar nicht so wirklich vor. Paolos plötzliches Erscheinen, Davids Ausbruch, die
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