Das Meer in seinen Augen (German Edition)
gedacht ... Aber Paolo konnte immer noch schuldig sein - allerdings auf andere Weise, als David es zuerst vermutet hatte. Er schluckte wieder.
»Du siehst nachdenklich aus«, sagte Merlin und machte ein besorgtes Gesicht. »Wegen gestern?«
David überlegte kurz, dann nickte er. Natürlich war er wegen des gestrigen Abends durcheinander. Allerdings nicht so, wie Merlin es vermutete.
»Hör zu«, fing Merlin an, »es tut mir leid. Normalerweise ist Paolo nicht so, okay?« Er schwieg einen Moment, dann fügte er an: »Ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist.«
David wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Er befürchtete, dass er irgendwie zu viel von seinem Wissen preisgeben könnte, wenn er jetzt etwas dazu sagte.
Merlin senkte den Kopf. »Ich hoffe, du kommst trotzdem noch mal zu Besuch.«
»Klar«, sagte David. Selbstverständlich würde er, obwohl es einiges gab, das dagegen sprach. Doch jetzt in Merlins Schatten fühlte er sich wieder so wohl, dass es einfach nicht in Betracht kam, sich von diesem Jungen fernzuhalten. Im Grunde hatter er mit dieser Idee auch schon längst abgeschlossen.
»Vielleicht können wir das mit dem Filmabend ja noch mal nachholen. Ich sperre Paolo auch in den Keller, versprochen.«
David lachte. »Das ist doch mal ein Angebot.«
Die Pausenglocke schellte und sie machten sich auf zu ihrer Klasse. David war glücklich, nicht mehr allein da hinten zu sitzen. Linda sah überrascht zu ihnen rüber. Für einen Augenblick schien es so, als wollte sie etwas sagen. Dann entschied sie sich aber wohl dagegen und fing ein Gespräch mit ihrer Tischnachbarin an.
»Haben wir was Wichtiges gemacht?«, fragte Merlin, während er seinen Schulkram auspackte.
»Nicht wirklich«, antwortete David. In der Tat wusste er es gar nicht mal mit Sicherheit. Immerhin hatte er die ganze Zeit an etwas vollkommen anderes gedacht und nicht an Englisch. Er fühlte durch die Jeans nach dem Briefchen, das er Linda geschrieben hatte. Unsicher holte er es hervor. Seine Hände wurden feucht. Herr Stolte kam ins Klassenzimmer und knallte sein Geschichtsbuch aufs Pult. Sicher würden sie jetzt eine wunderbare Lektion über den zweiten Weltkrieg durchnehmen.
»Wird wohl wie immer das Gleiche sein, oder?«
»Was?«, fragte Merlin und sah ihn an.
»Na, Geschichte. Wir nehmen doch garantiert wieder irgendwas Nationalsozialistisches durch.«
»Da kannst du dich bei Stolte drauf verlassen. Der kommt garantiert nicht mit aktuellen Sachen.« Merlin winkte ab.
Davids Hände waren mittlerweile vollkommen nass. Das war die denkbar dümmste Überleitung, die ihm einfallen konnte, aber er zwang sich trotzdem und sagte mit zitternder Stimme: »Willst du mal was Aktuelles - lesen?«
Merlin sah ihn verwirrt an. »Was meinst du?«
Schnell legte David das zusammengeknüllte Stück Papier auf Merlins Ordner. »Das«, sagte er nur knapp und drehte sich von ihm ab. Sein Herz schlug heftig in der Brust und er hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Aber, sagte er sich immer wieder, es war doch alles halb so wild. Merlin war doch selbst schwul - und absolut nett obendrein. Was sollte schon schiefgehen?
»Ey, das darf echt nicht wahr sein«, fluchte Merlin unterdrückt.
David drehte sich vollkommen steif wieder zu ihm um. Sein Mund klappte auf, aber es kam kein Wort heraus.
»Was soll der Schrott?«, fauchte Merlin. »Ich hab ihr gesagt, dass sie dich in Ruhe lassen soll mit der Scheiße, aber ...«
Jetzt verstand David endlich Merlins unterdrückten Ausbruch. Automatisch legte er seine Hand auf dessen Knie, um ihn zu beruhigen. »Nicht so laut«, flüsterte er. Irgendwie hatte er mit einem Mal das Gefühl, sich in einer mit Watte gefüllten Kiste zu befinden. Alles wirkte seltsam dumpf. Aber seine Übelkeit hatte nachgelassen.
»David, es tut mir leid, ich habe ihr extra gesagt ...«
»Sie hat recht«, murmelte David.
Merlin hielt inne. Dann las er den Zettel noch mal.
David spürte plötzlich einen Druck auf den Ohren, was den Eindruck mit der Wattekiste noch verstärkte. Er schluckte. Aber es änderte sich nichts. Dann sah er, dass Merlin grinste.
»Also hatten meine Mutter und Linda doch recht«, sagte er schließlich und zwinkerte ihm zu.
David fühlte eine verräterische Hitze in sein Gesicht steigen.
»Ist in Ordnung«, sagte Merlin und legte ihm nun seinerseits die Hand aufs Knie. »Wir reden nachher drüber, wenn du willst.« Damit richtete er sich wieder nach vorn. Den Zettel ließ
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