Das Meer in seinen Augen (German Edition)
hätte es gewollt. Und irgendwie wusste er, dass Merlin es auch wollte. Nicht nur einen Kuss, sondern mehr. Aber wie sollte dieses Mehr am Ende aussehen? Wie lange würden sie eine Beziehung geheim halten können? Plötzlich war er sich gar nicht mehr so sicher, dass Merlin das tatsächlich auch wollte. Ja, er war nicht abgeneigt, das spürte David. Doch welchen Grund würde Merlin haben, ein solches Versteckspiel mitzumachen? In seiner Welt gab es diesbezüglich keine Geheimnisse. Oder fast keine ... Er verwarf den Gedanken schnell wieder.
David sah sich um. Fünf vor. Noch immer keine Spur von Merlin. Langsam erhob er sich und ging allein über die Wiese zur Schule. Ob Merlin vielleicht heute einen anderen Weg gegangen war, damit er ihm nicht begegnen musste? David schüttelte den Kopf. Nein, dieser Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber es musste einen Grund geben, weshalb sie sich ausgerechnet heute nicht vor der Schule trafen. Vielleicht fühlte er sich von ihm verraten? Immerhin konnte er sich denken, dass ein normaler Junge sicher nicht auf dem Bett liegen geblieben wäre und so bereitwillig auf einen Kuss gewartet hätte. Plötzlich war David diese Situation peinlich. Im Grunde hatte er sich allein mit seiner Passitivität verraten, nur um kurz darauf zu schreien, dass er ja doch nicht schwul sei. Wieso war dieser Paolo überhaupt ins Zimmer gestürmt? David schluckte. Natürlich kannte er die Antwort auf diese Frage. Er wollte eine mögliche Beziehung zwischen ihm und Merlin verhindern. Was, wenn Merlin plötzlich einen Freund hatte? Dann hätte seine Affäre zu Paolo ein Ende. Da war es doch klar, dass er etwas dagegen unternehmen musste und sie störte. Und David hatte sich die Feindseligkeit in den Augen des Mannes sicher nicht nur eingebildet. Das, was er schon am Grillabend vermutet hatte, bestätigte sich nun, da er noch mal über die Szene von gestern nachdachte. Paolo konnte ihn nicht leiden. Er war der Eindringling, der das wunderbare Arrangement zwischen ihm und Merlin ins Wanken brachte. Wenn sich Merlin tatsächlich von Paolo abwenden würde, wenn er erst mit David zusammen war, dann würde sich Paolo einen neuen Partner für schnellen Sex suchen müssen. Und für einen neuen Merlin standen die Aussicheten wohl nicht sonderlich günstig. Es war einfach zu perfekt, dieses Abkommen. Paolo würde es nicht kampflos aufgeben.
Unentschlossen stand David vor dem Schultor. War das der Grund, weshalb Merlin heute früh nicht zur Bank gekommen war? Plötzlich drückte ihm ein düsterer Gedanke auf die Brust. Konnte es sein, dass Paolo etwas mit Merlins Abwesenheit zu tun hatte? Immerhin hatten sie sich ja gestritten, als David gestern davongelaufen war. Merlin hatte zum ersten Mal, seit er ihn kannte, die Stimme erhoben. Irgendwie sorgte das jetzt im Nachhinein noch für einen komischen Eindruck. Merlin schien ihm absolut nicht der Typ zu sein, der einfach so laut wurde. Aber gestern war er richtig wütend gewesen. Das sagte ihm eigentlich mehr als alles andere, dass Merlin etwas für ihn empfand. Und wenn er tatsächlich in ihn verknallt war, dann würde er doch alles daran setzen, ihn am nächsten Tag wiederzusehen, oder? David schluckte. Abwarten.
Es klingelte noch während er die Treppen zur ersten Etage des Schulgebäudes hinaufstieg. Ganz sicher würde Merlin schon an seinem Platz sitzen und auf ihn warten. Aber in dem Fall müsste David sich wohl ernsthaft Gedanken machen, weshalb der Junge ihn heute morgen gemieden hatte. Dennoch hoffte er, dass es so war. Als er aber schließlich in die Klasse trat, sah er Merlins Platz leer. Unbewusst blieb er stehen und starrte nach hinten ans Ende des Zimmers.
»Sie dürfen gern Platz nehmen«, sagte Frau Asbach, die Englischlehrerin.
David nickte geistesabwesend und setzte sich in Bewegung. Es war ein seltsames Gefühl, hier hinten allein zu sitzen, ohne Merlin. Linda sah verstohlen zu ihm hinüber. Aber als er sie ansah, drehte sie den Kopf schnell weg. David fühlte sich absolut schlecht. Sein einziger Freund war heute aus irgendeinem Grund nicht da - ausgerechnet nach der gestrigen Situation - und dessen Freundin mied ihn offensichtlich, weil sie ihn durchschaut hatte und ... Ja, was eigentlich? David wusste nicht so recht, was sie gegen ihn hatte. Entschlossen trennte er ein Blatt aus seinem Englischheft heraus und riss ein kleines Zettelchen zurecht. Vielleicht war es das Beste, wenn er sie einfach fragte. Er schrieb: Hast du was gegen mich?
Weitere Kostenlose Bücher