Das Meer und das Maedchen
einen Entschluss. Wenn es sein musste, würde er um die ganze Welt segeln, bis er Jack gefunden hatte.
Eine Woche später brachen er und der Kater zu ihrer Reise auf, von London nach Sydney, von Vancouver nach Ho An, von Auckland nach San Francisco.
Alles vergeblich. Dann traten sie schließlich die letzte Fahrt an, die sie an die Küste von Texas führte. Als Henri in Corpus Christi von Bord ging, folgte ihm der Kater an Land. Nach all den Jahren war Henri Beauchamp alt geworden.
Und was war mit dem Kater? War es immer noch derselbe, nach dieser langen Zeit? Dasselbe einäugige schwarz-weiße Tier? Henri Beauchamp war sich nicht sicher. Von Zeit zu Zeit verschwand der Kater eine Weile, und dann tauchte er eines Tages wieder auf. Dann befand sich plötzlich ein schwarzer Fleck an einer anderen Stelle seines Fells oder er hatte eine Zehe mehr an seiner Vorderpfote oder – was am Geheimnisvollsten war – das gute Auge war auf einmal auf der anderen Seite.
Trotzdem trug Mr Beauchamps Kater immer den Namen Sindbad, benannt nach dem berühmten einäugigen Piraten aus den Märchen des Orients.
Gemeinsam zogen sie nordwärts an den einsamen Strandabschnitt neben einer großen Lagune, die ein Kanal mit dem Meer verband. Bei Ebbe konnte man die Sandbank sehen, an der damals sein Schiff gekentert war. Sie lugte gerade so aus dem Wasser heraus. Dort hatte Mr Beauchamp seinen Porte-bonheur verloren. Vielleicht konnte er ihn wiederfinden.
Jahrelang lief er den Strand ab, hoffte jeden Tag, dass das Meer ihn zutage fördern würde.
Er hatte Jack erzählt, dass er nach Texas fahren würde. Vielleicht, dachte er, vielleicht würde Jack ihn finden, wenn es ihm schon nicht gelungen war, Jack ausfindig zu machen. Und so baute er ein Haus und pflanzte seine Rosen und den nachtblühenden Kaktus. Nachts konnte er hören, wie die Pferde einander riefen.
Die Jahre vergingen. Es waren so viele, dass er nicht mehr wusste, wie oft er schon hinaus in die Brandung geschwommen und hinabgetaucht war, auf der Suche nach der goldenen Scheibe, die er verloren hatte. Irgendwann war er zu alt, um ins Wasser hinauszuwaten, weil er befürchten musste, dass die Strömung ihn ins Meer ziehen und er nicht mehr die Kraft haben würde, zurück an Land zu schwimmen.
Schließlich erstarben auch die Stimmen der Pferde.
Alles, was ihm von Jack geblieben war, waren der Kater, die Rosen und die Königin der Nacht. Die Rosen blühten das ganze Jahr hindurch, aber der Kaktus – ah!, der nachtblühende Kaktus. Er öffnete seine Blüten nur einmal im Jahr, und auch nur in einer Vollmondnacht. Dann erfüllte der würzig süße Duft die Nacht und führte Henri Beauchamp in Gedanken wieder zu Jack und jenen längst vergangenen Nächten.
Aber in diesem Jahr würde der Kaktus nicht erblühen. Mr Beauchamp, der die abgebrochene Knospe in der Hand hielt, bezweifelte, dass er noch hier in der Oyster Ridge Road sein würde, wenn der Kaktus das nächste Mal seine Blüten öffnete. Nächstes Jahr.
In diesem Moment erstrahlte der Mond so hell wie nie zuvor. Sindbad wandte sein eines, funkelndes Auge dem weiten Ozean zu.
„Beeil dich“, schnurrte er. „Beeil dich.“
Und das Mädchen im Boot betrachtete denselben Mond und wünschte noch einmal seine Mutter herbei. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
81 Derweil schaute Dogie auf die Küchenuhr. Mitternacht. Kein Wunder, dass er sich so müde fühlte. Er ging zur Spüle und füllte die Kaffeekanne mit Wasser. Er hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Er brauchte erst mal einen Kaffee, trotz Zweis augenscheinlicher Ungeduld.
Während er darauf wartete, dass der Kaffee kochte, betrachtete er seine zerbrochene Ukulele. Das Koa-Holz, aus dem sie gemacht war, glänzte noch wie an dem Tag, als sein Onkel sie ihm geschenkt hatte.
Er betrachtete sie stirnrunzelnd, dann holte er ein Geschirrhandtuch und deckte das Instrument damit zu. Es war, wie einem Toten das Gesicht zu bedecken. Trauer durchströmte seine Finger.
Er liebte diese Ukulele.
Wenn er die Saiten anschlug, war es, als ob das Instrument die Worte seines Liedes aus ihm herauslocken würde, vollkommene Worte, die ohne Zögern über seine Lippen kamen, klar und glücklich. Ohne Stottern. Perfekt. Er hatte nie vorgehabt, Musiker zu werden, und er hielt sich auch nicht für einen. Nicht wirklich. Aber als er nach dem Krieg nach New Jersey zurückgekehrt war, als sein Körper nicht aufhörte zu zittern, kam eines Tages sein Großonkel Sylvester zu
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