Das Meer wird dein Leichentuch
hinzu: „Nicht einmal Gott selbst könnte die Titanic versenken.“
Mit einem Schrei rannte ich aus der Kabine. Ich war entsetzt, mit welch menschlichem Größenwahn dieser Mann den Allmächtigen herausforderte. Doch wie John Jacob Astor dachte damals die ganze Welt. Immer größer, immer schneller und immer stärker wurden die Entwicklungen der Technik. Und niemand sah, dass hinter dem Segen der Erfindungen ein Fluch lag. Denn der Mensch begann zu glauben, dass ihm nichts unmöglich sei. Und John Jacob Astor war ein typischer Vertreter dieser Zeit, wo man den technischen Fortschritt verehrte, wie einst das Goldene Kalb angebetet wurde.
Wie einst die Giganten der griechischen Sage den Götterberg Olymp, so stürmte der menschliche Geist mit Hilfe von Erfindungen in eine Zukunft, die ihm Himmel und Erde untertan machen sollte. Die Titanic glich dem legendären Turm von Babel, mit der die Menschheit einst den Himmel erstürmen und den Thron Gottes umstoßen wollte. Wenn ich an Damians Worte dachte, zitterte ich vor dem göttlichen Strafgericht.
So rasch ich konnte, lief ich durch den Gang zu Damians Kabine. Er hatte mir die Nummer gestern Abend genannt. Allerdings sollte ich ihn nur während der Dunkelheit aufsuchen. Warum er Probleme hatte, sich im Tageslicht zu bewegen, sagte er mir nicht. Und ich begriff es erst, als er sich mit offenbarte.
Die Kabine war fest verschlossen. Auf mein Klopfen wurde weder geöffnet noch erhielt ich eine Antwort. Ich war verzweifelt. Ich musste mit ihm reden und ihm sagen, dass es mir nicht gelungen war, Mr. Astor zu überzeugen. Und dass der Amerikaner sich mit seinen Worten sogar über die Allmacht Gottes lustig gemacht hatte.
Ich frage einige Stewards nach dem Marquis de Armand und erntete nur verständnisloses Kopfschütteln. Niemand hatte ihn bisher gesehen. Seine Kabine sei eigentlich für die Vanderbilts reserviert gewesen. Doch diese Millionärsfamilie hatte kurzfristig die Reise storniert.
Die Vanderbilts hatten während einer Séance unheimliche Prophezeiungen aus dem Geisterreich erhalten. Dass sie daran glaubten, rettete ihr Leben. Einige Wochen später fuhren die Vanderbilts mit der Olympic nach New York. Aber von ihrer Dienerschaft, die mit dem größten Teil ihres Gepäcks auf der Titanic vorausfahren sollte, kam nicht eine lebende Seele dort an.
Mein Dienst bei den Astors brachte mich auf andere Gedanken. Hauptsächlich leistete ich Madeleine Gesellschaft, während „Johnny“ seinen Sekretär mit eiligen Telegrammen zur Funker-Kabine schickte. Es ging um einen amerikanischen Steel-Trust, der kurz vor dem Konkurs stand. Und durch die telegrafierten Depeschen manipulierte John Jacob Astor von der Titanic aus die New Yorker Börse.
Kurz vor dem Abendessen brachte ihm Andrew Hopkins ein Telegramm mit dem Übergabeangebot der gigantischen Stahl-Gesellschaft. Händereibend diktierte der reichste Mann der Welt eine kurze Bestätigung, die Hopkins sofort in die Funker-Kabine weiterleitete. Dann steckte John Jacob Astor den Zettel, der ihn um mehrere Millionen Dollar reicher machte, nachlässig wie eine längst bezahlte Rechnung in die Tasche.
Die Welt des Geldes, der Großindustrie und der Aktien ist die freie Wildbahn für biedere Geschäftsleute und finanzielle Hasardeure. Sie ist der Dschungel für überreiche Tycoone und gerissene Spekulanten. Und John Jacob Astor war der Löwe, der unbestrittene König dieser freien Wildbahn des Geldes und der Macht.
Mit der Miene eines Triumphators betrat er den Speisesaal. Sein Sieg über den Steel-Trust hatte sich durch eine Indiskretion der Funker bereits unter den reichen Geschäftsleuten herumgesprochen. Man applaudierte Astor oder ballte heimlich die Fäuste und knirschte mit den Zähnen. Denn die durch Astor hervorgerufenen Veränderungen auf dem amerikanischen Kapitalmarkt gaben einigen cleveren Leuten Gelegenheit, am Niedergang des zerstörten Trusts ebenfalls zu profitieren. Wenn der Löwe seine Beute verzehrt hat, werden auch noch die Hyänen satt.
„Johnny“ war bester Stimmung und entließ mich nach einer Weile aus dem Rauchsalon. Es hatte sich eine Herrenrunde einflussreicher Dollar-Magnaten zusammengefunden. Bei ausgesuchten Bourbon-Whiskey und feinstem französischem Cognac konnten sich vielleicht geschäftliche Verflechtungen anbahnen. Bei solchen Gesprächen konnte ich ohnehin nicht mitreden. Ich war froh, dass ich mich aus der vom Qualm der Zigarren, Zigaretten und
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