Das Megatrend-Prinzip - wie die Welt von morgen entsteht
Sonderschneefälle und Vulkanausbrüche – Ewigkeiten in einer Schlange, an deren Ende wir unseren Körper und unser ganzes Gepäck wie auf einem Präsentierteller zeigen müssen. Wir werden sogar noch gezwungen, unsere Flüssigkeiten herauszurücken!
Man kann dies alles natürlich dem bösen Erbe und Geist Osama bin Ladens in die Schuhe schieben oder schlechter Planung oder dem miesen Management der Bahn. Man kann davon träumen, dass eines Tages Telematik, Teledildonik oder Teleportation endgültig freie Bahn garantieren. Mehr Mobilität muss her! Man kann aber auch begreifen, dass in steigender Mobilität selbst eine Art Rückwärtsschleife eingebaut ist.
Stimmt es wirklich, dass Menschen in der modernen Welt mobiler sind als »früher« oder in »primitiven« Gesellschaften? Sicher reisen wir über längere Distanzen – mithilfe von fossilen Energien lassen sich weite Strecken schnell zurücklegen. Aber unsere Vorfahren, die Jäger und Sammler, legten täglich viele Kilometer auf den eigenen Beinen zurück, während wir passiv in Gefährten hocken.
Als Antwort darauf fangen wir an zu joggen.
In der Agrarkultur saßen die Menschen keineswegs immer gemütlich auf der Bank vorm Ofen, wie uns die idyllischen Biedermeier-Bilder vergangener Zeiten suggerieren. Man muss nur nach Afrika reisen, um zu sehen, wie der »Normalzustand« des Unterwegsseins in klassischen Marktgesellschaften aussieht: Die Straßen sind dort unentwegt voll von Menschen, die zig Kilometer pro Tag zurücklegen, mit dem Moped, dem Fahrrad, auf dem Esel, den Füßen, mit dem Bus …
Die Vergangenheit ist viel stärker durch Mobilität geprägt, als wir glauben. Wanderungsbewegungen aufgrund von Hunger und Not oder wegen der Suche nach besseren Lebenschancen sind in die Oberfläche unseres Planeten regelrecht eingraviert. Noch im späten 19. Jahrhundert emigrierten rund 15 Prozent der Schweden, Iren, Schotten, Italiener – pro Jahrzehnt! Viel mehr Menschen als heutzutage verließen damals ihr Land, ihre Region, um sich dauerhaft woanders niederzulassen. Die Meinung, dass es »noch nie so viele Flüchtlinge und Migranten gab wie heute«, ist schlichtweg Unsinn. Eher ist das Gegenteil wahr: Noch nie konnten so viele Menschen an den Orten bleiben, wo sie sind.
Mitten in unserer ach so mobilen Kultur entstehen seltsame Formen immobiler Mobilität. Zum Beispiel im Fernsehsessel. Aber es entwickeln sich auch subtile Formen »rasenden Stillstands«. Wenn früher ein Mann (immer ein Mann) eine »Stelle« in Hamburg bekam, die Familie aber in München lebte, zog die Familie notgedrungen nach Hamburg um – ein einmaliger Akt von Mobilität, der danach neue Sesshaftigkeit ermöglichte. Heute würden Frau und Kinder auf ihren eigenen Jobs/Freundeskreisen/Heimatgefühlen beharren, und man nähme Pendeln in Kauf. Die Folge ist Scheinmobilität.
Immer mehr Menschen reisen zwar, aber sie lassen sich im Grunde auf nichts mehr ein. Mental bleiben sie in der gewohnten Umgebung. Neuerdings stehen sie mit ihrem iPhone oder einem ähnlichen Gerät vor einer Kirche und lassen sich einen Text vorlesen, den sie auch zu Hause hätten lesen können, beim Betrachten einer Postkarte. Rasende Unbeweglichkeit, Scheinortswechsel, Unterwegs-Cocooning.
Systemforscher haben herausgefunden, dass es ein optimales Bewegungsmuster gibt, das in einer Bevölkerung Vertrauen und Kooperation bei gleichzeitiger Innovationsbereitschaft hervorbringt. Bewegen sich die Menschen zu oft aus ihren Bindungen heraus, bleiben soziale Kontakte brüchig. Sind sie zu statisch, entwickeln sich Erstarrungen des Sozialen – in entlegenen Tälern, wo man seit 100 Generationen zusammenhaust, ist die Innovationsrate nicht besonders hoch. Erfolgreiche Wohlstandskulturen, so lautet die Vermutung, werden sich immer auf ein bestimmtes Maß von Mobilität selbstorganisiert einpendeln. 5
Es kommt also darauf an, auf welcher Ebene, aus welchem Blickwinkel wir Mobilität betrachten. Mobilität ist mit der Zurücklegung der Strecke von A nach B, also der rein physischen Dimension, nur oberflächlich erklärt. Echte Mobilität ist im Grunde eine Kulturtechnik, die aus Flexibilität, Kritikfähigkeit, Toleranz und Wandlungskompetenz besteht. Sie verbindet innere Mobilität mit der Fähigkeit, die räumliche Position zu ändern, wenn es sinnvoll ist. Wer wahrhaft mobil ist, muss nicht mehr dauernd hektisch herumrennen. Er spielt das Spiel auf einer höheren Ebene.
Die rekursive Schleife: Aus Megatrend und
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