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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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ich hier bald Burgherrin bin, aber ich muss sagen, die Kanalisation stinkt zum Himmel. Genauer gesagt, als wäre sie seit Anbeginn der Welt nicht mehr gereinigt worden. Oder als hätten prähistorische Ungeheuer ihr Geschäft darin verrichtet.«
    Sie kann ihn riechen, dachte Tiffany. Dann ist sie wirklich eine Hexe. Eine Hexe, die ausgebildet werden muss, damit sie für sich selbst und andere nicht zur Gefahr wird. Lätitia schnatterte weiter drauflos; es gab kein anderes Wort dafür. Tiffany, die sich noch immer mit aller Willenskraft der Stimme des Tückischen entgegenstemmte, fragte: »Warum?«
    »Ich finde einfach, die Schleifen sehen viel vorteilhafter aus als Knöpfe.« Lätitia hielt ein Nachthemd hoch, das Tiffany sich auch dann nicht hätte leisten können, wenn sie fünf Jahre darauf sparte.
    Du hast schon einmal gebrannt, genau wie ich! , krächzte die Stimme in ihrem Kopf. Aber diesmal wirst du mich nicht mit ins Feuer nehmen! Ich werde dich vernichten, dich und dein Bündnis des Bösen!!!!!
    Tiffany hatte das Gefühl, die Ausrufezeichen regelrecht sehen zu können. Sie brüllten an seiner Stelle, auch wenn er leise sprach. Sie zuckten und hackten auf seine Worte ein. Tiffany konnte sein hassverzerrtes Gesicht sehen und den spritzenden Geifer, der seinen drohend fuchtelnden Zeigefinger und sein Geschrei begleitete – flüssig gewordener Wahnsinn, der hinter dem Spiegel durch die Luft flog.
    Was für ein Glück für Lätitia, dass sie ihn nicht hören konnte, aber sie hatte den Kopf voll von Rüschen, Glockengeläut, Reiskörnern und der Aussicht, bald auf einer Hochzeit die Hauptrolle zu spielen. Durch diese rosarote Wolke konnte sich nicht einmal der Tückische hindurchbrennen.
    Sie brachte hervor: »Niemals!« Und im Stillen wiederholte sie immer wieder: Keine Augen. Gar keine Augen. Zwei Tunnel in seinem Kopf.
    »Ja, ich glaube, du hast Recht. Vielleicht sollte ich doch lieber das Malvenfarbene anziehen«, sagte Lätitia. »Obwohl es bis jetzt immer hieß, Nilgrün wäre genau meine Farbe. Übrigens würde ich mich gern bei dir für alles revanchieren. Kann ich dich zur Ersten Brautjungfer machen? Ansonsten hab ich nur einen Schwarm entfernter kleiner Cousinen, die ihre Brautjungfernkleidchen wohl schon seit zwei Wochen nicht mehr ausziehen.«
    Tiffany starrte immer noch ins Nichts, beziehungsweise in zwei Augen, die ins Nichts führten. Ihre Gedanken waren voll davon; da war kein Platz mehr für irgendwelche kleinen Cousinen. »Ich glaube nicht, dass Hexen sich als Brautjungfern eignen. Aber trotzdem, danke«, antwortete sie.
    Brautjungfern? Eine Hochzeit?
    Tiffany wurde es noch banger ums Herz. Es ging nicht anders: Sie rannte aus dem Zimmer, bevor das Wesen noch mehr erfahren konnte. Wie suchte es? Was suchte es? Hatte sie ihm gerade einen Hinweis gegeben? Sie floh hinunter ins Verlies, wo sie sich momentan am sichersten fühlte.
    Da lag das Buch, das Lätitia ihr geschenkt hatte. Sie schlug es auf. Oben in den Bergen hatte sie sich zur Schnellleserin entwickelt, weil es dort nur Bücher aus der fahrenden Leihbücherei gab und man für das Überschreiten der Leihfrist einen Penny Strafe zahlen musste, ein erkleckliches Sümmchen, wenn die übliche Währungseinheit ein alter Stiefel war.
    Das Buch enthielt Geschichten über Fenster. Keine gewöhnlichen Fenster, auch wenn manche so aussahen. Und hinter ihnen… konnten Ungeheuer lauern. Ein Gemälde, eine Seite in einem Buch oder sogar eine Pfütze an der richtigen Stelle konnten ein Fenster sein. Ihr fiel der fürchterliche Kobold aus dem alten Märchenbuch wieder ein: Manchmal lachte er, und manchmal grinste er. Sie hatte das von Anfang an gemerkt. Es war zwar kein großer Unterschied, aber ein Unterschied war es doch. Und man fragte sich immer: Wie sah er beim letzten Mal aus? Habe ich es mir falsch gemerkt?
    Das Buch raschelte unter Tiffanys Händen wie ein hungriges Eichhörnchen, das in einem hohlen Baum voller Nüsse aufwacht. Der Verfasser war ein Zauberer, und noch dazu ein sehr langatmig erzählender. Trotzdem war das Buch faszinierend. Es hatte Menschen gegeben, die in ein Gemälde hineingingen, und Menschen, die aus einem Gemälde heraustraten. Fenster waren ein Durchlass in eine andere Welt, wobei alles ein Fenster sein konnte und alles eine Welt. Tiffany hatte einmal gehört, man erkenne ein gutes Porträt daran, dass einen die Augen verfolgten, aber wenn man dem Buch glauben konnte, verfolgten sie einen womöglich bis nach Hause, bis

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