Das Mitternachtskleid
Mädchen, das unter einer Decke im Stroh lag und schlief, und wurde plötzlich sehr ernst.
»Der kann von Glück sagen, dass wir nich mitgekriegt haben, wie er sie verdroschen hat … Der hätt sein blaues Wunder erlebt, das kann ich dir flüstern«, sagte er.
»Dann ist es ja gut, dass ihr nicht da wart«, sagte Tiffany. »Oder wollt ihr etwa, dass sich jemand mit einer Schaufel an eurem Hügel zu schaffen macht? Bleibt weg von den Großen, verstanden? Ihr macht sie nervös. Und wenn die Menschen erst nervös sind, werden sie auch schnell wütend. Aber wo ihr schon mal da seid, könnt ihr euch genauso gut nützlich machen. Ich möchte das arme Ding in die Höhle bringen.«
»Is schon klar«, antwortete Rob. »Deswegen hat uns die Kelda ja hergeschickt.«
»Sie wusste davon? Jeannie wusste von dieser Geschichte? «
»Keine Ahnung«, sagte Rob nervös. Er wurde immer nervös, wenn es um seine Frau ging. Er liebte sie abgöttisch und bekam schon weiche Knie, wenn er bloß daran dachte, dass ihn womöglich ein andeutungsweise missbilligender Blick von ihr treffen könnte. Das Leben der anderen Größten drehte sich im Allgemeinen nur ums Rauben, Raufen und Saufen, abgesehen von Kleinigkeiten wie der – meist diebischen – Beschaffung von Lebensmitteln und dem Wäschewaschen, worauf sie meistens verzichteten. Aber als Mann der Kelda musste Rob Irgendwer auch noch das Erklären übernehmen, was für keinen Größten eine leichte Aufgabe war. »Deswegen is Jeannie ja die Kelda, weil sie so was weiß«, ergänzte er, ohne Tiffany in die Augen zu sehen. Er konnte einem leidtun. Wahrscheinlich war es angenehmer, zwischen Baum und Borke zu stecken als zwischen einer Kelda und einer alten Hexe.
3
Aus dem Schlummer erwacht
Der Mond stand hoch am Himmel und hatte die Welt in ein scharfkantiges Puzzle aus schwarzen und silbrigen Teilen verwandelt, als Tiffany und die Wir-sind-die-Größten aufbrachen. Die Kobolde konnten sich, wenn ihnen danach war, vollkommen geräuschlos bewegen. Tiffany war auch schon von ihnen getragen worden, ein sanftes Geschaukel und nicht einmal unangenehmen – vorausgesetzt, sie hatten in den letzten ein, zwei Monaten gebadet.
Im ganzen Hügelland gab es wahrscheinlich kaum einen Schäfer, der die Behausung der Größten nicht kannte. Aber niemand redete darüber. Manche Dinge blieben besser unausgesprochen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass auf dem Hügel, wo die kleinen freien Männer wohnten, sehr viel weniger Lämmer verloren gingen als in anderen Teilen der Kreide, und dass dafür hin und wieder ein krankes oder altersschwaches Tier spurlos verschwand (die Größten hatten eine besondere Vorliebe für gut abgehangenes, streng schmeckendes Hammelfleisch, auf dem man stundenlang herumkauen konnte). Die Herden wurden bewacht, und die Wächter nahmen sich ihren Lohn. Außerdem lag ihre Behausung sehr nah bei den Überresten von Oma Wehs alter Schäferhütte, und das war gewissermaßen heiliger Boden.
Tiffany roch den Rauch, der zwischen den Dornbüschen aufstieg. Zum Glück musste sie sich nicht mehr von oben durch das Loch in die Höhle gleiten lassen. Eine Neunjährige hatte mit so einer Rutschpartie natürlich kein Problem, aber für eine knapp Sechzehnjährige war es eine würdelose Prozedur. Außerdem konnte man sich das Kleid dabei zerreißen. Und – obwohl sie das nie zugeben würde – zu eng war es auch.
Doch Jeannie, die Kelda, war nicht untätig gewesen. Sie hatte eine alte Kreidegrube, die durch einen unterirdischen Tunnel mit der Höhle verbunden war, von den Jungs mit zusammengestückeltem Wellblech und Segeltuch überdachen lassen – Materialien, die ihnen wie üblich »zugeflogen« waren. Von außen fielen diese Veränderungen an der Grube überhaupt nicht auf, weil sie so dicht mit Brombeerranken, Trichterreben und Glockenwinden überwuchert war, dass kaum eine Maus den Weg hinein gefunden hätte. Wasser allerdings schon. Es lief über das Wellblech ab und sammelte sich in den dafür aufgestellten Fässern und Tonnen. Die Größten hatten jetzt viel mehr Platz zum Kochen, und Tiffany konnte mühelos zu ihnen hinuntersteigen – so lange sie daran dachte, vorher laut ihren Namen zu rufen, damit die richtigen Schnüre gezogen werden konnten und sich der undurchdringliche Rankenteppich für sie öffnete. Die Kelda hatte dort unten ihr eigenes Badezimmer; die anderen Kobolde badeten nur, wenn sie zum Beispiel durch eine Mondfinsternis daran erinnert wurden.
Nachdem Amber
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