Das Mitternachtskleid
gründlich einstudiert. Wie auswendig gelernt.
Doch zum Reden blieb jetzt keine Zeit mehr. Die Ankunft des Königs hatte so etwas wie eine frische Brise in den Saal gebracht. Und Tiffany bemerkte zum ersten Mal Pastor Ei in seinem schwarz-weißen Talar. Sie rückte ihren spitzen Hut zurecht und gesellte sich zu ihm. Er schien sich darüber zu freuen, denn er lächelte sie dankbar an.
»Ha, eine Hexe, wenn ich mich nicht irre.«
»Ja, der spitze Hut sagt alles, nicht wahr?«
»Aber wie ich sehe, kein schwarzes Kleid …?«
Tiffany hörte das Fragezeichen vorbeifliegen. »Das Mitternachtskleid ziehe ich erst an, wenn ich alt bin.«
»Recht so«, sagte der Pastor. »Und bis dahin tragen Sie Grün, Weiß und Blau, die Farben des Hügellandes, wenn ich das mal so in den Raum stellen darf!«
Tiffany war beeindruckt. »Dann sind Sie also kein Hexenjäger? « Es war sicher nicht besonders klug, ihn so direkt zu fragen, aber sie war ein bisschen überdreht.
Pastor Ei schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen versichern, meine Dame, dass die Kirche so etwas schon seit Jahrhunderten nicht mehr betreibt! Leider haben manche Menschen ein viel zu gutes Gedächtnis. Erst vor wenigen Jahren schrieb der berühmte Pastor Hafer in seinem bekannten Werk Testament aus den Bergen , dass die Frauen, die man Hexen nennt, mit ihrem sorgenden, praktischen Handeln die vornehmsten Ideale des Propheten Brutha verkörpern. Damit kann ich leben. Sie auch?«
Tiffany schenkte ihm ihr liebreizendstes Lächeln, dem nichtsdestotrotz eine leicht herbe Note anhaftete. Liebreiz war noch nie ihre Stärke gewesen.
»Es ist wichtig zu wissen, wo man steht, finden Sie nicht auch?«
Sie schnupperte, doch der einzige Geruch, der von ihm ausging war ein Hauch Rasiercreme. Trotzdem, sie musste auf der Hut sein.
Es war eine schöne Beerdigung – was nach Tiffanys Definition bedeutete, dass die Hauptperson sehr alt war. Sie hatte andere erlebt – viel zu viele –, bei denen Kinder zu Grabe getragen wurden, nur in ein Leichentuch gehüllt. Särge waren nicht nur im Kreideland so gut wie unbekannt. Stabiles Holz war zu wertvoll, um es in der Erde vermodern zu lassen. Die meisten Leute begnügten sich mit einem schlichten Tuch aus weißer Wolle; die Herstellung war einfach, der Preis nicht zu hoch, und die Wollindustrie hatte auch etwas davon. Der Baron allerdings wurde in einem Sarkophag aus weißem Marmor zur letzten Ruhe gebettet, den er, da er ein praktischer Mann war, bereits vor zwanzig Jahren entworfen, in Auftrag gegeben und bezahlt hatte. Und weil Marmor gern mal ein bisschen kühl sein kann, war der Sarg mit einem weißen Leichentuch ausgekleidet.
Das Ende des alten Barons. Nur Tiffany wusste, wo er wirklich war. Er stapfte mit seinem Vater über das brennende Stoppelfeld, an einem perfekten Spätsommertag, in einem für alle Zeit festgehaltenen perfekten Augenblick…
Sie schnappte nach Luft. »Das Bild!« Obwohl sie es nur halblaut hervorgestoßen hatte, drehte sich in der näheren Umgebung alles nach ihr um. Sie dachte, wie selbstsüchtig von mir. Und dann dachte sie: Es wird doch hoffentlich noch da sein?
Sobald der steinerne Deckel mit einem Geräusch, das Tiffany nie vergessen würde, auf den Sarkophag geschoben worden war, machte sie sich auf die Suche nach Brian. Der schniefte in sein Taschentuch, als sie ihn fand, und sah sie aus rot geränderten Augen an.
Sie nahm ihn sanft beim Arm, um ihn nicht durch allzu große Eile zu verschrecken. »Das Zimmer, in dem der Baron gewohnt hat. Ist es abgeschlossen?«
Er machte ein schockiertes Gesicht. »Worauf du dich verlassen kannst! Und das Geld liegt in der Studierstube im Tresor. Warum fragst du?«
»Es war etwas sehr Wertvolles in dem Zimmer. Eine lederne Mappe. Wurde die auch in den Tresor gelegt?«
Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Glaub mir, Tiff, nach diesem« – er zögerte – »kleinen Missverständnis habe ich eine gründliche Inventur gemacht. Es hat nichts das Zimmer verlassen, ohne dass ich es gesehen und in meinem Notizbuch aufgeschrieben habe. Mit Bleistift«, fügte er, um größtmögliche Genauigkeit bemüht, hinzu. »So was wie eine lederne Mappe wurde nicht rausgebracht, da bin ich mir sicher.«
»Nein. Und warum nicht? Weil Frau Proper sie schon mitgenommen hatte«, sagte Tiffany. »Diese elende Pflegerin! Das mit dem Geld war mir egal; ich hatte sowieso nicht damit gerechnet. Vielleicht dachte sie, dass die Mappe Besitzurkunden enthält!«
Tiffany lief
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