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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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Nanny. »Weißt du, ob er ein Lieblingslied hatte?«
    »Oh ja! ›Auf zum Himmel steigt die Lerche‹«, antwortete Tiffany.
    »Ich glaube, bei uns zu Hause heißt es ›Freud und Lust‹. Mach einfach mit, dann bringen wir sie schon in Fahrt.«
    Damit hielt Nanny einen vorbeischwebenden Aufwärter an der Schulter fest, schnappte sich eine volle Flasche von seinem Tablett, sprang behände wie ein junges Mädchen auf einen Tisch und sorgte im schönsten Kasernenhofton für Ruhe im Saal. »Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um das erfüllte Leben und den friedlichen Tod unseres lieben Verstorbenen, unseres Freundes und Barons würdig zu begehen, wurde ich gebeten, sein Lieblingslied zum Vortrag zu bringen. Singen Sie doch bitte mit, wenn Sie genug Puste übrig haben.«
    Tiffany lauschte gebannt. Nanny Ogg war ein Meister, beziehungsweise eine Meisterin im Umgang mit Menschen. Sie behandelte wildfremde Leute wie uralte Freunde, und die gingen darauf ein, als stünden sie tatsächlich schon seit ewigen Zeiten mit ihr auf du und du. Mitgerissen von einer hervorragenden Singstimme – für eine alte Frau mit nur noch einem einzigen Zahn im Mund allemal –, fielen die verdutzten Trauergäste nach anfänglich verschämtem Gemurmel bereits bei der zweiten Liedzeile kräftig mit ein. Nach der ersten Strophe harmonisierten sie wie ein Chor und fraßen Nanny Ogg aus der Hand. Tiffany weinte. Durch ihre Tränen sah sie einen kleinen Jungen in seiner neuen, nach Urin riechenden Tweedjacke, der mit seinem Vater unter anderen Sternen wandelte.
    Die Gesichter der übrigen Trauergäste glänzten ebenfalls tränennass, auch das von Pastor Ei und sogar das der Herzogin. In den Echos schwangen Verlust und Erinnerung mit, und der ganze Rittersaal atmete schwer.
    Das hätte ich lernen sollen, dachte Tiffany. Ich wollte Feuer und Schmerz lernen, aber ich hätte lieber Menschen lernen sollen. Und: besser zu singen als eine Truthenne.
    Das Lied war zu Ende. Doch während die Menschen einander noch verlegen ansahen, gab Nanny Ogg auf dem Tisch mit ihren Stiefeln bereits den nächsten Rhythmus vor. »Tanzt, tanzt, dass die Bettstelle wackelt. Tanzt, tanzt, wenn die Sackpfeife spielt« , stimmte sie an.
    Tiffany dachte: Ist das etwa das richtige Lied für eine Beerdigung? Und dann dachte sie: Na klar! Es hat eine wunderschöne Melodie und erinnert uns daran, dass wir zwar eines Tages alle sterben müssen, wir aber – und darauf kommt es an – jetzt noch nicht tot sind .
    Nanny Ogg sprang vom Tisch, packte Pastor Ei bei der Hand, wirbelte ihn herum und sang: »Der Tod, der Tod, der holt uns alle, da hilft uns auch kein Priester nicht.« Und der fromme Mann lächelte und tanzte mit ihr.
    Die Zuhörer klatschten Beifall – was Tiffany auf einer Beerdigung nie im Leben erwartet hätte. Sie wünschte sich… ach, wie sehr sie sich doch wünschte, wie Nanny Ogg zu sein, die so viel verstand und aus der Stille den Funken des Gelächters schlagen konnte.
    Als der Applaus verklungen war, erhob sich eine Männerstimme: »Drunten im Tale, hörst du‘s mein Kind? Drunten im Tale geht flüsternd der Wind … « Und die Stille wich der ungeahnt glockenhellen Stimme des Feldwebels.
    Nanny Ogg schlenderte zu Tiffany herüber. »Na, die hab ich aber ganz hübsch auf Touren gebracht. Hörst du, wie sie sich räuspern? Bevor der Abend zu Ende ist, schmettert garantiert auch noch der Pastor los. Jetzt muss ich mir aber mal wieder die Kehle ölen. Singen macht durstig.« Sie zwinkerte ihr zu. »Erst der Mensch, dann die Hexe. Wenn man sich das mal gemerkt hat, ist es gar nicht mehr so schwer.«
    Es war Magie. Ein Saal mit Leuten, die einander kaum kannten, hatte sich in einen Saal verwandelt, in dem sich Menschen unter Menschen wussten. Und das war momentan das Einzige, worauf es ankam. In diesem Augenblick tippte ihr Preston auf die Schulter. Er hatte ein seltsam besorgtes Lächeln im Gesicht.
    »So leid es mir tut, Fräulein, aber ich bin im Dienst, und ich muss Ihnen mitteilen, dass noch drei weitere Gäste eingetroffen sind.«
    »Kannst du sie nicht einfach reinbringen?«, fragte Tiffany.
    »Das würde ich nur zu gern tun, aber sie sind auf dem Dach gestrandet. Was für ein Geräusch machen drei Hexen? Lautes Zetern.«
     
    Anscheinend war den Neuankömmlingen in der Zwischenzeit die Puste ausgegangen, denn bis Tiffany das richtige Fenster gefunden hatte und auf das Bleidach der Burg hinauskrabbeln konnte, war das Zetern bereits stark abgeflaut. Da

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