Das Mitternachtskleid
jedenfalls hatte Tiffany es noch nie erlebt –, dass Oma Wetterwachs beunruhigt aussah.
»Bist du dir ganz sicher, dass du den Tückischen besiegen kannst? Du trägst immer noch kein Schwarz.«
»Wenn ich alt bin, trage ich das Mitternachtskleid«, sagte Tiffany. »Es ist meine Entscheidung. Und ich weiß auch, warum ihr hier seid, Oma. Um mich zu töten, wenn ich versage. «
»Mist, verdammter«, sagte Oma Wetterwachs. »Du bist eine Hexe, eine gute Hexe. Aber manche von uns finden, wir sollten darauf bestehen , dir zu helfen.«
»Nein«, sagte Tiffany. »Mein Revier. Meine Schuld. Mein Problem.«
»Ganz egal, was auch kommen mag?«
»Vollkommen egal!«
»Nun, das nenne ich lobenswerte Prinzipientreue, und ich wünsche dir … nein, kein Glück, sondern Gewissheit!« Unter den anderen Hexen erhob sich ein Geraune, und Oma Wetterwachs blaffte: »Sie hat sich entschieden. Das war‘s, meine Damen!«
»Dann hat der Kerl jetzt schon verloren«, sagte Nanny Ogg grinsend. »Er kann einem fast leidtun. Verpass ihm einen ordentlichen Tritt in die… Ach, egal, wohin, Hauptsache, mit Schmackes.«
»Du hast Heimvorteil«, sagte Frau Prust. »Wie sollte eine Hexe auf eigenem Platz verlieren können?«
Oma Wetterwachs nickte. »Wenn du dich von deinem Stolz überwältigen lässt, hast du schon verloren, aber wenn du deinen Stolz bei der Mähne packst und ihn reitest wie einen Hengst, hast du vielleicht schon gewonnen. Und jetzt wird es wohl langsam Zeit, dass du dich vorbereitest, Fräulein Tiffany Weh. Hast du einen Plan für morgen früh?«
Tiffany sah in ihre stechend blauen Augen. »Ja. Nicht zu verlieren.«
»Das ist ein guter Plan.«
Frau Prust gab Tiffany ihre warzige Hand und sagte: »Wie es der glückliche Zufall will, muss ich heute Abend auch noch ein Monster erledigen.«
14
Der König brennt
Tiffany versuchte erst gar nicht, in dieser Nacht etwas Schlaf zu bekommen. Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt. Die Gäste saßen noch gesellig plaudernd bei Speis und Trank beisammen, und möglicherweise lag es an Letzterem, dass ihnen gar nicht auffiel, wie schnell die Speisen und Getränke verschwanden. Tiffany dagegen war das leise Rumoren zwischen den hohen Deckenbalken nicht entgangen. Zwar waren Hexen sprichwörtlich dafür bekannt, dass sie sich die Taschen mit Vorräten für später vollstopften, aber die Größten übertrafen sie dabei sogar noch, vermutlich allein durch ihre schiere Anzahl.
Tiffany wanderte ziellos von Gruppe zu Gruppe, und als sich die Herzogin schließlich nach oben zurückzog, folgte sie ihr nicht. Davon, dass sie ihr folgte, konnte wirklich keine Rede sein. Sie ging nur zufälligerweise in dieselbe Richtung. Auch als sie, nachdem die Herzogin in ihrem Zimmer verschwunden war, zu ihrer Tür huschte, tat sie das nicht etwa, um zu lauschen. Gott bewahre.
Sie kam gerade rechtzeitig, um die ersten Töne eines Wutschreis mitzubekommen, gefolgt von Frau Prusts Stimme: »Na, wenn das nicht Deirdre Bittersilch ist, fress ich meinen Besen – mit Pailetten! Can-Cannst du immer noch einem Mann den Zylinder vom Kopf kicken?« Dann wurde es totenstill, und Tiffany machte sich lieber aus dem Staub. Die Tür war sehr dick, und es ging nicht an, dass man sie womöglich erwischte, wie sie mit dem Ohr daran klebte.
Im Rittersaal unterhielt sie sich noch ein wenig mit der Langen-dünnen-kurzen-dicken-Sally und Frau Unvermut, die, wie sie erst jetzt bemerkte, blind war – was zwar nicht schön, für eine Hexe aber auch kein Beinbruch war. Hexen können sich immer mit irgendwelchen zusätzlichen Sinnen behelfen.
Dann ging sie hinunter in die Gruft.
Der Sarkophag des alten Barons stand in einem Meer von Blumen. Nur der marmorne Deckel war frei geblieben – er war so wunderschön gearbeitet, dass ihn sogar Rosen verschandelt hätten. Der Baron selbst war in den Stein gemeißelt, in voller Rüstung und mit seinem Schwert in der Hand. So lebensecht war das Ganze gemacht, dass es einen kaum gewundert hätte, wenn er sich erhoben und einfach davongegangen wäre. An den vier Ecken der Marmorplatte brannten Kerzen.
Tiffany wanderte zwischen den anderen toten Baronen auf und ab. Auch die eine oder andere Ehefrau hatte man hier bestattet, die Hände aus Stein friedlich gefaltet. Es war … sonderbar. Sonst gab es keine Grabsteine im Kreideland. Stein war zu kostbar. Es gab Totenäcker, und auf der Burg wurde ein altes Buch mit verblichenen Karten verwahrt, auf denen eingezeichnet war, wo wer begraben
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