Das Mitternachtskleid
alte Frau begraben, die sie die Hexe genannt hatten. Wer Bescheid wusste, entdeckte unter dem vielen Grün noch die Überreste ihres Häuschens. Wer besser Bescheid wusste, konnte auch den kleinen Hügel ausmachen, unter dem sie lag. Und wer noch besser Bescheid wusste, erkannte sogar die Stelle, wo Tiffany ihre Katze beerdigt hatte: Dort wuchs nämlich Katzenminze.
Vor vielen Jahren hatte das Dorf der alten Frau und ihrer Katze ebenfalls eine Katzenmusik gegeben. Die lärmende Meute zerrte sie raus in den Schnee, riss ihre morsche Hütte nieder und verbrannte ihre Bücher, weil Bilder von Sternen darin abgedruckt waren.
Und warum? Weil der Sohn des Barons verschwunden war und Frau Schnappich keine Familie und keine Zähne mehr hatte und – ja, zugegeben – auch ein bisschen gackelig war. Deshalb musste sie wohl eine Hexe sein, und weil die Menschen im Kreideland Hexen nicht über den Weg trauten, wurde sie kurzerhand in den Schnee hinausgeschleift. Und während die Männer ihre Katze zu Tode steinigten und das Feuer das Strohdach ihrer Hütte fraß, kräuselten sich die Buchseiten mit den Sternen glimmend in den Nachthimmel. Nachdem die alte Frau in jenem Winter vergeblich an viele Türen geklopft hatte, starb sie einsam und allein im Schnee, und weil sie irgendwo begraben werden musste, verscharrte man sie an der Stelle, wo ihre Hütte gestanden hatte.
Aber natürlich hatte Frau Schnappich mit dem Verschwinden des jungen Barons nicht das Geringste zu tun. Schon bald danach hatte Tiffany ihn aus einem wundersamen Elfenland zurückgeholt. Heutzutage sprach im Dorf niemand mehr von der alten Frau. Wenn die Leute allerdings im Sommer an der Lichtung vorbeigingen, war die Luft erfüllt von köstlichen Blütendüften und den Honigfarben der Bienen.
Keiner redete darüber. Was hätten sie denn auch sagen können? Dass auf dem Grab der alten Frau seltene Blumen wuchsen und Katzenminze an der Stelle, wo die kleine Weh ihre Katze begraben hatte? Es war ein Rätsel und vielleicht sogar ein Urteil – obwohl man lieber nicht darüber nachdachte und schon gar nicht darüber diskutierte, wer da warum und weshalb über wen geurteilt hatte. Aber die Frage blieb: Wie konnte es sein, dass auf den Überresten einer vermeintlichen Hexe die herrlichsten Blumen blühten?
Tiffany stellte sich diese Frage nicht. Die Samen waren teuer gewesen, und sie musste sie extra in Zweihemden besorgen, doch sie hatte sich geschworen, dafür zu sorgen, dass die Farbenpracht im Wald die Menschen jeden Sommer an jene alte Frau erinnern sollte, die dort von ihnen in den Tod getrieben und begraben worden war. Ihr war selbst nicht ganz klar, warum ihr so viel daran lag, sie wusste nur in tiefster Seele, dass es wichtig war.
Nachdem sie zwischen den Eiligliebchen eine traurige kleine Grube ausgehoben und sich nach allen Seiten vergewissert hatte, dass sie nicht von irgendeinem Frühaufsteher beobachtet wurde, schaufelte sie das Loch mit beiden Händen wieder zu. Sie streute etwas Laub darüber und pflanzte ein paar Vergiss-mein-G‘sicht auf das Grab. Eigentlich waren die hier eher unangebracht, aber sie wuchsen schnell, und darauf kam es an, denn… jemand belauerte sie . Doch sie durfte sich auf keinen Fall umdrehen. Sie wusste, dass sie nicht gesehen werden konnte. Sie kannte nur einen einzigen Menschen, der besser darin war, sich unsichtbar zu machen, als sie, und das war Oma Wetterwachs. Ein leichter Nebel hing noch über der Lichtung, aber sie hätte es gehört, wenn jemand den Weg heraufgekommen wäre. Und es war auch kein Tier. Blicke von Vögeln und anderen Tieren fühlten sich ganz anders an.
Eine Hexe hat es eigentlich nicht nötig, sich umzudrehen, weil sie auch so wissen müsste, was hinter ihr vorgeht. Normalerweise hatte Tiffany auch keine Schwierigkeiten damit, aber diesmal sagten ihr alle Sinne, dass sich im Haselnusswald niemand aufhielt außer Tiffany Weh, und das war ihr ganz und gar nicht geheuer.
»Zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf«, sagte sie laut, und ihr war so, als hörte sie ein leises »Ja«, wie ein Echo. Nur gab es hier nichts, wovon es hätte widerhallen können. Sie schwang sich auf ihren Besen und flog davon, so schnell sie konnte. Dass sie nicht gerade eine der Schnellsten war, wenn es ums Fliegen ging, hatte immerhin den Vorteil, dass es nicht so aussah, als ob sie floh.
Wunderlich werden – ein Thema, über das Hexen nicht oft redeten, dessen sie sich jedoch stets bewusst waren.
Ob man wunderlich wurde
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